Bild, 11.08.2010

Irrsinn Justiz!
5 Polizisten bewachen einen freigelassenen Vergewaltiger

Es berichten R. MÜHLEBACH, A. BLUM, U. REINHARDT und S. TREISCH

Lässig schlendert Hans-Jürgen M. (58) durch Freiburg (Baden-Württemberg). Dicht hinter ihm geht ein Polizist in Zivil. Der Triebtäter hat mehrere Frauen vergewaltigt, gilt als stark rückfallgefährdet. Nach mehr als 20 Jahren Haft musste er vor einer Woche entlassen werden.

Sieben Einrichtungen lehnten es ab, ihn aufzunehmen. Derzeit lebt er in einem Männerwohnheim, hat ein Zimmer (14 qm).

Fünf Polizisten verfolgen den Triebtäter – zu Fuß oder mit zwei silbernen Opel Vectras. Ab und zu wechseln sie ein Wort mit der „Zielperson“.

Bei seinem ersten Ausflug ging der Vergewaltiger zur AOK-Geschäftsstelle, danach schlenderte er durch ein Möbelhaus. Die anderen Kunden ahnten nichts …

Der Fall von Hans-Jürgen M. ist exemplarisch für die derzeit ungeklärte Situation um die Sicherungsverwahrung von gefährlichen Schwerverbrechern.

Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das die nachträgliche Sicherungsverwahrung für unzulässig erklärte, streiten Politiker in Deutschland um eine Neuregelung.

DIE ZEIT DRÄNGT.

In deutschen Gefängnissen sitzen 524 Schwerverbrecher in Sicherungsverwahrung. Das Bundesjustizministerium schätzt: 80 von ihnen müssen demnächst aus der Haft entlassen werden.

Nach einer BILD-Umfrage bei den Justizministerien der Länder sind es deutlich mehr – nämlich 157 Fälle. 65 davon in Nordrhein-Westfalen, 19 in Bayern, 17 in Hamburg, 20 in Berlin.

Bislang wurden seit dem Urteil 14 Täter entlassen – allein sechs von ihnen in Hessen.

WAS KOMMT DA AUF UNS ZU?

Die entlassenen Schwerverbrecher stehen unter Führungsaufsicht, werden von der Polizei beobachtet. Sie bekommen Auflagen: Hans-Jürgen M., der entlassene Täter aus Freiburg, muss sich z. B. einmal pro Woche bei der Polizei melden, darf keinen Alkohol trinken und keine gefährlichen Gegenstände bei sich führen.

Das Risiko: Die Polizei kann so viele Täter nicht mehr überwachen. Allein in Hessen beobachtet die ZÜRS (Zentralstelle zur Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter) 144 Triebtäter!

Rainer Wendt, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft, warnte im ZDF: „Wir werden, um diese Täter zu bewachen, künftig 3000 bis 5000 Polizisten abstellen müssen. Es ist völlig absurd anzunehmen, dass das gewährleistet werden kann. Das heißt: Die Taten, die Opfer werden dann mehr werden.“

11.08.2010

Westdeutsche Zeitung: Internet-Pranger = von Peter Kurz

Düsseldorf (ots) – Die Situation ist bedrückend. Ein Sexualstraftäter kommt nach Verbüßung seiner Haft frei. Obwohl zu vermuten ist, dass auch künftig eine Gefahr von ihm ausgeht. Weil aber wegen eines Urteils des Menschenrechtsgerichtshofs in etwa 80 solchen Fällen eine rückwirkend angeordnete Sicherungsverwahrung nicht möglich ist, werden diese vielleicht sehr gefährlichen Menschen zu unseren Nachbarn. Unerkannt. Da erscheint der Vorschlag des Chefs der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, schlüssig, den Wohnsitz via Internet bekannt zu machen. Aber was dann? Sollen Menschen, die sich bedroht fühlen, fortan bestimmte Straßenzüge meiden? Statt sich sicherer zu fühlen, werden auf diese Weise informierte Nachbarn vielmehr verunsichert sein. Und: Ihre Immobilienwerte werden sinken. Wer will schon gern in der Nähe eines verurteilten Sexualverbrechers leben?

Gewiss, Immobilienpreise sind läppisch im Vergleich zu den Ängsten von Eltern um ihre Kinder. Diese Sorgen müssen ernst genommen werden. Aber das Anprangern im Internet hilft hier nicht weiter. Denn dies wäre das Eingeständnis des Staates und seiner Polizei, der Bedrohung nicht Herr zu werden. Die Sache wird an die Bürger delegiert, nach dem Motto: Macht mit der Information, was ihr wollt. Demonstriert vor dem Haus, verjagt diesen Menschen.

Hat das Erfolg, wiederholt sich das Ganze in der nächsten Stadt. Statt dem Täter nach Verbüßung seiner Strafe die Chance auf Resozialisierung zu geben, wird der Angeprangerte in die Isolation getrieben und damit womöglich erst recht gefährlich. Oder er wird sogar angegriffen. Statt neue Straftaten zu vermeiden, werden weitere provoziert. Die Polizei bekäme am Ende noch mehr zu tun: Sie hätte nicht nur die Bevölkerung vor dem möglichen Rückfalltäter zu schützen, sondern auch diesen vor einer Lynchjustiz. Was also tun – die Sicherungsunterbringung gefährlicher Täter? Selbst wenn dies in Häusern geschähe, die keine Gefängnisse sind, bliebe die Sache rechtlich heikel. Denn es würden Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben, vorbeugend eingesperrt – wegen Taten, die sie noch gar nicht begangen haben. Am Ende bleiben wohl nur Therapieangebote und lückenlose Observation, um die Risiken zu minimieren

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