Berliner Zeitung, 21.10.2010
Polizisten berichten über Gewaltexzesse in Stuttgart und Gorleben
Matthias Thieme
Berlin
In den Reihen der Polizei wächst der Unmut über die Politik. Ruppige Großeinsätze wie bei den Protesten gegen Stuttgart 21 und die bevorstehenden Massenproteste bei den Castor-Transporten lassen viele Beamte am Sinn ihrer Aufgabe zweifeln. „Der Einsatz am 30. September im Stuttgarter Schlossgarten ist völlig aus dem Ruder gelaufen“, sagt etwa Thomas Mohr aus dem Landesvorstand der Gewerkschaft der Polizei in Baden-Württemberg. „Ich war live dabei und spreche für zahlreiche Kollegen, die es ähnlich empfinden.“ Der Polizist erlebte an diesem Tag „einen absoluten Strategiewechsel“. Zuvor seien friedliche Proteste die Regel gewesen, zum Teil habe es Diskussionen zwischen Beamten und Demonstranten gegeben.
Doch am 30. September sei man schon per Funk dramatisch nach Stuttgart gerufen worden, erzählt Mohr. Man solle schnell mit Blaulicht fahren, Polizeifahrzeuge seien bereits besetzt worden, der Landtag sei umzingelt. „Da ging es nicht mehr um Deeskalation“, sagt Mohr. Für ihn und viele Kollegen steht fest: „Die Landespolitik wollte das so.“ Obwohl die meisten Demonstranten friedlich waren, sei dem Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf der Einsatz von Wasserwerfern aufgedrängt worden.
Dann sei entgegen jeglicher Einsatzplanung im Schlossgarten plötzlich hart durchgegriffen worden. „Das sind schlimme Vorfälle, die uns schmerzen“, sagt Mohr. „Die Polizei hat einen großen Image-Schaden erlitten und die Landesregierung hat dies verursacht.“ Auch Ministerpräsident Stefan Mappus habe „die Stimmung noch unnötig aufgeheizt“ und nun würden Baden-Württembergs Polizisten als „Kinderschläger und Kinderschänder“ beschimpft. „Die Politik trägt die Schuld an dieser unnötigen Eskalation“, sagt Mohr. „Man kann politische Themen nicht mit Biegen und Brechen durchsetzen und die Polizei das im Schlossgarten mit den Demonstranten ausmachen lassen.“
Bei den bevorstehenden Castor-Transporten und den zu erwartenden Massenprotesten befürchten viele Polizisten Gewalteskalationen – auch aus den eigenen Reihen. „Es war wie in einem Vietnam-Film“, sagt ein ehemaliger Bereitschaftspolizist über seinen Gorleben-Einsatz vor einigen Jahren. „Das ist eine tagelange Hetzjagd.“ Untergebracht in Kasernen, mit einem Minimum an Schlaf, habe man das Castor-Fahrzeug am Ende durch die Demonstrantenmassen zum Endlager prügeln müssen. Dreieinhalb Stunden lang stand er direkt hinter dem Castor-Behälter, wehrte Demonstranten ab. „Das Ding war brühwarm“, sagt der Polizist. Später wird sich herausstellen, dass der Geigerzähler an seiner Uniform nur 120 Minuten lang funktionierte.
„Je enger es dann wird Richtung Dannenberg, desto wilder wird es“, so der Beamte. „Aus dem Wald kamen die Demonstranten gerannt und haben uns mit Leuchtspurmunition beschossen.“ Aus dem Polizeihubschrauber über ihnen erhielten die Beamten Befehle: „Die letzten Meter darf der Transport nicht stoppen.“ Besetzten die Demonstranten zu lange die Straße, hieß es „Schlagstock frei“ – für manchen Polizisten auch das Signal zum Abreagieren. „Manche ältere Kollegen hatten schon einen richtigen Hass“, sagt der Polizist. „Da gibt es dann eben was auf die Matratze.“ Unnötig harte Schläge etwa. „Wenn einer härter zuschlägt, stoppt ihn keiner“, sagt der Beamte. Manche Polizisten hätten sich später Kerben in den Schlagstock geritzt: Eine für jeden geschlagenen Demonstranten. Und wenn der Castor dann endlich ins Endlager rollt, „dann klatscht man sich ab wie beim Fußball“, sagt der Polizist.