Welt online, 29.06.2010

Nach Routineeinsatz werden fünf Beamte zum Teil lebensgefährlich verletzt – Internetvideo zeigt auch Polizeigewalt

von Florian Hanauer und André Zand-Vakili

Hamburg – Ein brutaler Angriff einer Hamburger Jugendgang auf Polizeibeamte sorgt in der Hansestadt für Diskussionen um öffentliche Sicherheit und Jugendkriminalität. In einem Vorort, dem Stadtteil Neuwiedenthal südlich der Elbe, hatten rund zwei Dutzend Schläger am Wochenende Polizisten angegriffen und dabei fünf Beamte schwer verletzt. Einer der Beamten erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen, als ein Jugendlicher den am Boden liegenden Mann gegen den Kopf trat. „Für sein Auge sieht es kritisch aus“, sagte eine Polizeisprecherin.

Seit gestern sorgt auch ein Video für Diskussionen, das im Internetportal YouTube zu sehen ist: Es zeigt die Situation in der Hochhaussiedlung kurz bevor die Lage eskaliert. Zu sehen ist ein scheinbar wehrlos am Boden liegender junger Mann, auf den einer der beiden anwesenden Polizisten wiederholt mit einem Schlagstock einschlägt. Um die Polizisten herum sind aufgebrachte Jugendliche zu sehen, die immer wieder fragen, warum der Beamte den am Boden liegenden Mann geschlagen habe. Dies könnte der Zündfunke für die späteren Übergriffe gewesen sein, die auf dem Video nicht zu sehen sind.

Minutiös muss nun geklärt werden, wie es zu der Eskalation kam. „Dass es sich um einen Hinterhalt gehandelt haben könnte, ist reine Spekulation“, sagte die Sprecherin. Am Anfang hatte alles nach einem Routineeinsatz ausgesehen: Passanten hatten die Polizei am Samstagabend wegen einer angeblichen Schlägerei in die Großwohnsiedlung gerufen. Zwei Polizisten, die mit ihrem Streifenwagen eintrafen, fanden zwar keine Schlägerei, trafen aber auf einen 27-jährigen Mann, der sich entblößt hatte, während eine Frau mit zwei Kindern vorbeiging. Die Beamten hielten den Mann an, um seine Personalien festzustellen. Der Mann wehrte sich heftig, etwa zeitgleich wurden sie von der Gruppe von Jugendlichen umringt.

Das Video, offenbar mit einem Mobiltelefon aus der Hand gefilmt, zeigt, wie der eine Polizist die heranrückenden Jugendlichen auf Abstand hält. „Komm doch her, Du Feigling“, ruft er einem zu und schwingt den Schlagstock. Der andere Beamte versucht derweil, den Mann auf dem Boden zu halten, was ihm nicht gelingt. Dann schlägt er mehrmals mit seinem Schlagstock zu. Das Video bricht nach etwas mehr als fünf Minuten ab. Während dieser Zeit stehen die zwei Beamten den jungen Männern zu zweit gegenüber. Verstärkung trifft auch nach fünf Minuten noch nicht ein. „Noch während der Überprüfung des 27- Jährigen wurden die Polizisten plötzlich von rund 30 Jugendlichen zunächst verbal und anschließend tätlich, durch Stein- und Flaschenwürfe, angegriffen“, teilt die Polizei später mit. Als die Unterstützungskräfte eintreffen, werden auch sie angegriffen. Zwei Polizisten gehen zu Boden und werden mit Schlägen und Tritten traktiert. Als die Polizei schließlich Kräfte aus dem gesamten Stadtgebiet zusammengezogen hat, gelingt es ihr, 16 Randalierer zwischen 15 und 32 Jahren festzunehmen. Fünf Polizisten zwischen 35 und 46 Jahren sind verletzt, einer lebensgefährlich. Am Montag lief die Fahndung nach dem flüchtigen mutmaßlichen Haupttäter, einem 31 Jahre alten Tunesier, auf Hochtouren. In dem Video scheint er zwar beschwichtigend auf die Beamten und die aufgebrachten Jugendlichen einzureden. Wenig später aber soll er laut Zeugen einem am Boden liegenden Polizisten ins Gesicht getreten haben. Der Tunesier hatte schon 1997 Schlagzeilen gemacht, als er eine Bande anführte, die Jugendliche in dem Viertel erpresste. Eines seiner Opfer, ein 17-Jähriger, soll sich damals aus Verzweiflung vor einen Zug geworfen haben.

Hamburger Politiker reagierten entsetzt auf den neuesten Gewaltexzess. Die Deutsche Polizei-Gewerkschaft sprach von Verhältnissen wie in Pariser Vorstädten. Die oppositionelle SPD warf vor allem die Frage auf, warum es so lange gedauert habe, bis polizeiliche Verstärkung am Ort des Geschehens eintraf.

Hamburger Abendblatt, 29.06.2010

Gesuchter Schläger seit Jahren kriminell
Von Sascha Balasko, Denis Fengler, Andreas Dey, Michelle Kossel 29. Juni 2010, 05:18 Uhr

Deutschtunesier Amor S. terrorisiert Neugraben. 1997 beging eines seiner Opfer, Mirco, Selbstmord. 13 Jahre danach ist er wieder auf der Flucht

Der 17 Jahre alte Lehrling hielt die Drohungen nicht mehr aus. Seit Jahren drangsalierte eine Bande von Jugendlichen Gleichaltrige, zwang sie, Geld und Klamotten abzugeben. „Abziehen“ wird das unter den Tätern genannt. Am 31. Januar 1997 hätte Mirco Sch. „diesen Typen 750 Mark geben“ sollen, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. Ein ganzes Monatsgehalt. An diesem Tag nahm er sich das Leben. Auf der Strecke Neugraben-Harburg sprang der verzweifelte Jugendliche vor einen Zug.

Hauptverantwortlicher war Bandenchef Amor S., damals 18 Jahre alt und polizeibekannt. Ihm konnte Mircos Suizid rechtlich nicht angelastet werden. Doch wegen räuberischer Erpressung, Raubes und Körperverletzung wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch ein Teil seiner Komplizen musste in Haft.

13 Jahre später steht Amor S., mittlerweile im gestandenen Alter von 31 Jahren, erneut im Interesse der Öffentlichkeit. Nach Erkenntnissen der Ermittler ist er der Täter, der bei dem Angriff auf fünf Polizisten einen Beamten mit einem Tritt ins Gesicht derart schwer verletzt hat, dass nicht nur nahezu jeder Kochen gebrochen ist, sondern dieser Mann nun auch um die Sehkraft eines Auges bangen muss. Amor S., der keinen festen Wohnsitz hat, ist auf der Flucht. Gegen ihn wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt.

Wie berichtet, war die Polizei zu einer vermeintlichen Schlägerei am S-Bahnhof Neuwiedenthal gerufen worden. Als die Beamten dort nichts feststellten, fuhren sie zurück. Dabei fiel ihnen ein Exhibitionist auf. Bei der Festnahme wurden die Beamten zunächst von einer zehnköpfigen Gruppe Jugendlicher und Erwachsener bepöbelt. Später wuchs die Gruppe auf 30 Angreifer an. Bei der anschließenden Schlägerei wurden fünf Polizisten verletzt. Die 16 Festgenommenen waren allesamt polizeibekannt und haben einen Migrationshintergrund.

Dass die Polizisten mit dem Anruf in eine Falle gelockt wurden, um sie gezielt anzugreifen, glaubt Polizeisprecher Ralf Meyer nicht. „Das war ein spontaner Akt während eines Routineeinsatzes.“ Neugraben sei immer wieder mal Einsatzschwerpunkt gewesen.

Im Bezirk Harburg zeigten sich Vertreter von Politik und Verwaltung schockiert über die Vorfälle. „Diese Straftäter müssen weggeschlossen werden. Hier ist Knast angesagt“, sagt Bezirksamtsleiter Torsten Meinberg (CDU). Mit mangelnder Integrationsarbeit habe die Entwicklung nichts zu tun. „Integration ist keine Einbahnstraße. Auch nicht in Harburg.“ Auch Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) spricht von einem Integrationsproblem. „Solange sich Familien aus anderen Kulturkreisen abschotten, Konflikte in den eigenen vier Wänden mit Gewalt lösen und nur eigene Traditionen gepflegt werden, werden wir diese Menschen nicht integrieren können.“

Uwe Koßel, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, warnt davor, dass es künftig ähnliche Probleme geben könnte wie in einigen französischen Vorstädten. Joachim Lenders, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, fordert langjährige Haftstrafen für die Täter.

Der CDU-Kreisvorsitzende Ralf-Dieter Fischer fürchtet, dass die Eskalation der Gewalt „das subjektive Sicherheitsempfinden vieler rechtschaffener Bürger in erheblichem Maß beeinträchtigt“. Es müsse alles unternommen werden, um kleinen Gruppen von Gewalttätern Einhalt zu gebieten.

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