Die Welt, 19.08.2010

„Hart aber fair“
Ein Horrorszenario, wenn Straftäter in Dörfer ziehen
Frank Plasberg stellte die wohl absurdeste Idee zur Umsetzung der Sicherheitsverwahrung vor. Auch zwei Häftlinge reichten einen Vorschlag ein.

Von Adrian Pickshaus

Man stelle sich eine Insel in der Nord- oder Ostsee vor. Hier könnten entlassene – aber weiter gefährliche – Straftäter leben und für sich selbst sorgen, als Hirten und Handwerker. Weit draußen könnten sie den Frauen und Kindern auf dem Festland nicht gefährlich werden – und trotzdem eine Art Alltag erleben.

Das sagten die Gäste bei Frank Plasberg …

Gabriele Karl (Gründerin und Vorsitzende des Vereins „Opfer gegen Gewalt“)

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„Es gibt eine Riesenlobby, die diese Menschen immer wieder rauslässt und therapieren will. Dabei wehren sich viele Gewalttäter mit Händen und Füßen gegen die Therapie.“

Bernhard Schroer (Rechtsanwalt, klagte erfolgreich gegen die unbefristete Sicherungsverwahrung)

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„Für meinen Mandant hat die Freiheit eine sehr große Bedeutung. Da ist die Aussicht auf eine neue Strafe Abschreckung genug.“

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP, Bundesjustizministerin)

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„Da gehen die Emotionen hoch, ich verstehe das. Aber wir kommen mit diesem Schwarzen-Peter-Spiel nicht weiter. Wir brauchen eine verfassungsfeste Lösung.“

Joachim Herrmann (CSU, Bayerischer Staatsminister des Innern)

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„Das deutsche Verfassungsgericht hat sich immer auch mit dem Opferschutz befasst. Aber Strassburg hat sich nur mit den Menschenrechten der Täter beschäftigt.“

Rainer Wendt (Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft)

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„Die Bevölkerung muss vor einem gefährlichen Straftäter doch gewarnt werden. Das ist grundsätzliches Handwerkszeug der Polizei.“

Der kochende Volkszorn spiegelte sich schon im Titel der Sendung wider: „Mörder in Freiheit, Bürger in Angst – versagt unsere Justiz?“. Das zog an und rein ins Thema. Und auch der erste Einspieler ließ den Zuschauer frösteln: Gezeigt wurde die nordrhein-westfälische Kleinstadt Randerath – als menschenleere Wüste. Der Grund: Ein mehrfach verurteilter Vergewaltiger ohne Interesse an Therapie wohnt im Ort. Die Bürger wissen es – und haben panische Angst um ihre Kinder. Die Polizei kann nichts machen, außer der vermeintlichen Zeitbombe auf Schritt und Tritt zu folgen.

Der Film war ein perfekter Steilpass für Rainer Wendt: „Da hätte die Politik sich drauf vorbereiten können! Die Probleme wurden der Polizei vor die Füße gekippt, wir müssen das jetzt ausbaden.“

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Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, meinte damit die Arbeit, die Polizisten zwischen Flensburg und München ab sofort beschäftigt: Bis zu 80 Schwerstverbrecher werden zurzeit aus den Gefängnissen entlassen – obwohl von ihnen noch Gefahr ausgehen kann.

Die Polizei muss ihnen deshalb auf Schritt und Tritt folgen. „Wir brauchen diese Arbeit nicht, und wir haben die 3000 bis 5000 Beamten nicht, die wir dazu bräuchten. Diese Leute gehören hinter Schloss und Riegel!“, ereiferte sich Wendt. Und das Publikum klatschte.

Grund für Wendts Groll ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Straßburger Richter gaben der Beschwerde eines deutschen Gewaltverbrechers statt, dessen Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert worden war. Nach Auffassung der Richter verstieß das gegen ein zentrales Rechtsstaatsprinzip: Eine Strafe darf nicht rückwirkend verschärft werden.

Der Anwalt, der dieses Urteil erkämpft hat, saß auch in Plasbergs Runde. Obwohl Bernhard Schroer eindeutig auf Plasbergs „heißem Stuhl“ saß, verteidigte er ruhig seinen Standpunkt: Auch Gewaltverbrecher hätten Rechte, die Menschenwürde gelte für alle Bürger, denn: „Ein Rechtsstaat muss verlässlich sein.“ Dafür bekam Schroer auch Applaus.

Gespenstisch still wurde es im Studio, wenn Gabriele Karl redete. Karls Tochter Stephanie wurde Mitte der 90er-Jahre von einem vorbestraften Vergewaltiger ermordet. Der Schmerz der Mutter war durch den Bildschirm spürbar: Mit brüchiger Stimme erhob die grauhaarige Vorsitzende des Vereins „Opfer gegen Gewalt“ schwere Vorwürfe gegen Politik und Justiz: „Ich kann nicht einsehen, dass der Staat Tätern, die Leben zerstört haben, noch einmal die Chance gibt, Leben zu zerstören.“ Stattdessen müsse der Staat von seinem Gewaltmonopol Gebrauch machen.

Das brachte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in die Defensive. Wie sollte sie auch den verständlichen Zorn einer Frau auffangen, die auf brutalste Art ihr Kind verloren hat?

Leutheusser-Schnarrenberger probierte es mit einem Ausblick: Die schwarzgelbe Koalition arbeite an einer Gesetzesnovelle, aber es bedürfe einer verfassungsfesten Lösung und keines „Etikettenschwindels“. Für die jetzt freigelassenen Gewaltverbrecher brachte sie erneut eine elektronische Fußfessel „als Ergänzung“ ins Spiel.

Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) probiertes es zunächst mit der groben Kelle: „Die Freilassung ist ein Skandal“, polterte er. Doch dem Moderator Plasberg erklären, warum weder Bund noch Länder auf eine Gerichtsentscheidung aus dem Dezember 2009 rechtzeitig reagiert hätten, konnte auch der bayrische Lautsprecher nicht.

Foto: dpa Seine journalistische Karriere begann bereits während seiner Schulzeit, als er als freier Mitarbeiter für die „Rheinische Post“ arbeitete.

Foto: picture-alliance / obs 15 Jahre lang moderierte er zusammen mit Christine Westermann die „Aktuelle Stunde“, die immer noch im WDR läuft.

Foto: AP Anschließend, im Jahr 2001, übernahm Frank Plasberg die Polittalkshow „Hart aber fair“.

Foto: picture-alliance/ dpa In der Sendung diskutiert Frank Plasberg mit seinen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über die verschiedensten kontroversen Themen.

Foto: picture-alliance / Sven Simon Plasbergs Arbeit wurde bereits fünf Mal mit großen Preisen ausgezeichnet. Hier hält er gerade den Adolf-Grimme-Preis in den Händen, der ihm 2005 in der Kategorie „Information und Kultur“ verliehen wurde.

Foto: DDP 2007 war Frank Plasberg neben Sandra Maischberger (l.) und Anne Will (M.) im Gespräch für die Nachfolge von Sabine Christiansens Sonntags-Talkrunde. Am Ende machte Anne Will das Rennen.

Foto: picture-alliance / Sven Simon Für viel Wirbel sorgte auch die Ehe-Krise 2007 mit seiner Frau Angela Maas, die ebenfalls beim WDR arbeitete. Grund für den Streit war Plasbergs angebliches Verhältnis mit der TV-Moderatorin Anne Gesthuysen.

Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb Plasberg tritt generell selbstbewusst auf, wie hier in der Fernsehshow „Johannes B. Kerner“.

Foto: dpa Humor bewies Plasberg 2007 bei dem Prominenten-Spezial von „Wer wird Millionär“. „Ich mache ja auch Neunzig-Minuten-Sendungen und wissen Sie, was ich immer vermisst habe? Die Pinkelpause“, bekannte Plasberg freimütig.

Foto: DPA In der neuen NDR-Quizshow „Die klügsten Kinder im Norden“ testet Frank Plasberg das Schulwissen der Kandidaten. Die Fragen…

Foto: picture-alliance/ obs …stammen aus den Klassenstufen eins bis sechs und die Kinder treten gemeinsam mit ihren Eltern an. Als Joker…

Foto: WDR … erlaubt Plasberg einen Anruf bei einem Lehrer. Die Teams können pro Sendung 10.000 Euro gewinnen.

Schließlich sprach er sich für jene Lösung aus, die auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) durchsetzen will: Eine deutliche Trennung von Haft und Sicherungsverwahrung, die vor Europas Gerichten bestehen kann.

Also doch die Insel? „So abwegig ist dieser Vorschlag nicht“, sagte dazu Thomas Feltes, Kriminologie-Professor von der Universität Bochum. „Die Menschen müssen doch die Möglichkeit haben, sich auf die Freiheit vorzubereiten.“

Aus diesem Grund attackierte Feltes auch den Gewerkschafter Wendt scharf, für seine in Zeitungsinterviews gestellte Forderung nach einem „Internet-Pranger für Sex-Täter“. Solche Vorschläge würden einer Resozialisierung im Wege stehen. Wendt selbst nahm von den Online-Steckbriefen nach amerikanischem Vorbild wieder Abstand. Die Polizei sollte lieber in persönlichen Gesprächen vor Gefahren warnen.

Zum Schluss reiste Plasberg mit seinen Gästen noch mal nach Randerath. Der letzte Einspieler zeigte verunsicherte Kleinstädter, die mit dem Bösen in ihrer Mitte nicht umzugehen wissen. Erst gab es Demos gegen den „Kinderschänder“, dann entdeckten die Nazis das Thema für sich. Das Beispiel zeigte: die Politik muss endlich handeln. Sonst will jeder, der Kinder hat, fliehen. Auf seine eigene kleine Insel.

DerWesten, 19.08.2010

Köln. Dutzende Schwerverbrecher werden derzeit aus der Sicherheitsverwahrung entlassen. Einzige Alternative sei ein Gesetz, das die Sicherheitsverwahrung deutlicher vom Strafvollzug abgrenzt, meint die Talkrunde bei „Hart aber Fair“.

Wenn Mörder und Vergewaltiger plötzlich zu Nachbarn werden – die Angstvorstellung vieler Bürger wird in diesen Tagen bittere Realität: Denn nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg vom Dezember 2009 greift für Extrem-Straftäter, die ihre Tat vor 1998 begangen haben, das Prinzip der nachträglichen Sicherheitsverwahrung nicht mehr. Demnach dürfen Gewalttäter nach Verbüßen ihrer Strafe nicht mehr weggesperrt werden.

Einzige Voraussetzung: Sie haben während ihrer Haft und der anschließenden Sicherheitsverwahrung kein weiteres, schweres Verbrechen begangen. Mindestens 80 Extrem-Kriminelle sind von dem Urteil betroffen. Sie sind bereits oder kommen noch auf freien Fuß – doch wo bleibt da die Sicherheit der Bürger? „Mörder in Freiheit, Bürger in Angst – versagt unsere Justiz?“ Darüber diskutierten am Mittwochabend Politiker, Kriminologen, Polizisten und Betroffene in Frank Plasbergs ARD-Talkshow „Hart aber Fair“.

„Bei allem Verständnis für die Opfer – auch Täter haben Rechte“, sagt Bernhard Schoer. Der Anwalt klagte erfolgreich gegen die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung. Die Freilassung vieler Straftäter geht auf ihn zurück. Doch werden durch das Urteil von Straßburg nicht gleichzeitig die Menschenrechte der potenziellen Opfer missachtet? Hat der Rechtsstaat nicht eine Verantwortung gegenüber all denjenigen, die durch diese Gewalttäter bedroht werden?

Bayerischer Innenminister hält Freilassung für einen Skandal

„Es ist Aufgabe des Staates von seinem Gewaltmonopol Gebrauch zu machen und die Bürger vor den gefährlichsten aller Straftäter zu schützen“, mahnt Gabriele Karl. Ihre Tochter wurde vor 15 Jahren von einem Serientäter erwürgt. Der Mörder sitzt heute in lebenslanger Haft. Doch Gewaltverbrecher wie ihn wieder freizulassen gleiche einer tickenden Zeitbombe. Die Gefahr, dass sie rückfällig würden ist laut Karl nicht unwahrscheinlich. „Das wäre so, als würde meine Tochter immer wieder ermordet“, prangert die Opfer-Mutter an.

Auch der bayerische Innenminister Joachim Hermann (CSU) hält die Freilassung gefährlicher Schwerverbrecher für einen Skandal: Mörder und Vergewaltiger gehören seiner Meinung nach „hinter Schloss und Riegel.“ Völlig anders sieht das Thomas Feltes, Professor für Kriminologie. Geht es nach ihm, dann haben auch Extrem-Straftäter „das Recht nach dem Vollzug wieder in die Gesellschaft integriert zu werden“.

Jörn P. wurde rückfällig

So wie Jörn P.. Als seine Sicherheitsverwahrung 2009 auslief, mussten die Richter den mehrfachen Vergewaltiger freilassen – obwohl sie ihn als gefährlich einschätzten und Wiederholungstaten nicht ausschlossen. 61 Tage nach seiner Freilassung lockte er dann eine 18-Jährige in seine Wohnung, fesselte und vergewaltigte sie mehrfach. Eine Tat, für die er nun bestraft wird. Doch musste es so weit kommen?

Bereits 2005 kamen erste Zweifel am bisherigen Konzept der Sicherheitsverwahrung auf. Der Grund: Die Sicherheitsverwahrung folge der eigentlichen Haftstrafe, unterscheide sich jedoch kaum von dieser. Doch obwohl diese Einwände bekannt waren, gab es keine Überarbeitungsvorschläge seitens der Politik. Erst auf das Straßburger Urteil im Dezember 2009 reagierte die Bundesregierung mit einem Einspruch, der jedoch im Mai 2010 abgelehnt wurde.

Seitdem werden Täter, für die die Regelung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung nicht mehr greift, freigelassen. Ob gefährlich, oder nicht: Sogenannte Altfälle wieder einzusperren ist laut Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nicht möglich. Doch in Freiheit werden die entlassenen Straftäter zumeist von mehr als 15 Polizisten überwacht. Laut Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, eine „hanebüchene“ Arbeit, für die der Polizei schlicht die notwendigen Ressourcen fehlen.

Doch auch Leutheusser-Schnarrenbergers Vorschlag, die Polizei durch eine Elektronische Fußfessel zu entlasten, findet in der Gesprächsrunde keinen Anklang. Weitgehend einig werden sich die Diskutanten an diesem Abend nur in einem Punkt: Es müsse ein Gesetz verabschiedet werden, das die Sicherheitsverwahrung künftig deutlicher vom Strafvollzug trennt. Nach Verbüßen ihrer Strafe sollen Gewalttäter dann in spezielle Anstalten verlegt werden, in denen sie nicht als Strafgefangene untergebracht sind.

Der Stern, 19.08.2010

„Hart aber fair“ zur Sicherungsverwahrung: Eine Ostseeinsel für Serienverbrecher
Was passiert mit Schwerverbrechern nach Ablauf ihrer Haftstrafe? Frank Plasberg schaftte es, Sachlichkeit in die Debatte um die Sicherungsverwahrung zu bringen und einen wunden Punkt der Politik aufzudecken. Am Ende lernte der Moderator sogar noch etwas – dank eines ungewöhnlichen Vorschlags. Von Malte Arnsperger

Machte in seiner Sendung deutlich, wie groß die Unterschiede beim Thema Sicherungsverwahrung zwischen FDP und CSU sind© Michael Gottschalk/DDP

Sie sind zwar alt, aber so aktuell wie nie. „Nulla poena sine culpa“ heißt der eine Grundsatz. „Nulla poena sine lege“ der andere. Übersetzt aus dem Lateinischen: „Keine Strafe ohne Schuld“ und „Keine Strafe ohne Gesetz“. Um die Auslegung dieser beiden ehernen Rechtsvorschriften, die auch im Grundgesetz verankert sind, tobt in Deutschland derzeit eine erbitterte Debatte. Es geht darum, wie die Gesellschaft mit ihren schlimmsten Verbrechern, den Serienvergewaltigern, den Mehrfachmördern, den notorischen Kinderschändern umgehen soll. Soll man diese Menschen auch nach ihrer Haft in der sogenannten Sicherungsverwahrung unbegrenzt einsperren können, obwohl sie keine neue Straftat begangen haben? Auch dann, wenn es das Gesetz zum Zeitpunkt ihrer Tat noch gar nicht gab? Aber wo sollen sie untergebracht werden? Und wie schützt man ihre Mitmenschen, wenn sie dann endlich entlassen werden?

In seiner Sendung „Hart aber fair“ wollte ARD-Moderator Frank Plasberg unter dem provokativen Motto „Mörder in Freiheit, Bürger in Angst – versagt unsere Justiz?“ diese und andere Fragen zum Thema Sicherungsverwahrung beantworten. Kein leichtes Unterfangen, werden doch seit Wochen von vielen Seiten immer neue Vorschläge propagiert. Zudem schlachtet die Boulevard-Presse dieses sowohl komplizierte als auch emotionale Thema auf ihre Weise aus und präsentiert fast täglich neue (Ex)-Übeltäter auf freiem Fuß. Eine verständliche Zusammenfassung der verschiedenen Argumente und eine Versachlichung der Debatte täte also Not.

Keine Einigkeit innerhalb der Koalition
Frank Plasberg ist das gelungen – zumindest zum Teil. So wurde im Laufe der Sendung klar, wie groß die Unterschiede beim Thema Sicherungsverwahrung zwischen den Regierungsparteien FDP und CSU sind. Der wortgewaltige bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) machte deutlich, warum er als Hardliner gilt. Gefährliche Straftäter gehören für ihn weggesperrt. Ohne Wenn und Aber. Herrmann ist ein glühender Verfechter der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Diese erlaubt es einem Gericht, gegen einen Strafgefangenen noch am letzten Tag seiner Haft die weitere Unterbringung zu verhängen. Selbst dann, wenn es im ursprünglichen Urteil gegen den Betroffenen nicht so vorgesehen war. Einschränkung: Während der Haft müssen neue Tatsachen aufgetreten sein, wie etwa Drohungen des Häftlings.

Genau das treibt Herrmann auf die Palme „Ich fordere, dass diese Erfordernis der neuen Tatsachen aus dem Gesetz gestrichen wird. Das Gericht muss auch ohne neue Tatsachen die Möglichkeit haben zu sagen: So wie wir einen Täter jetzt einschätzen, muss er hinter Gitter bleiben.“ Die Frau direkt neben ihm schüttelte bei diesen Worten nur den Kopf. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin. Die FDP-Politikerin kämpft bei diesem Thema seit Wochen gegen die Koalitionskollegen aus den Unionsparteien. Sie will die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffen. Im Gegenzug sollen sich die Gerichte in ihren Urteilen öfter die Sicherungsverwahrung vorbehalten. „Das schafft Rechtssicherheit“, lobt Leutheusser-Schnarrenberger ihr eigenes Konzept.

„Diese Leute gehören hinter Schloss und Riegel“
Rechtssicherheit zu schaffen wäre auch dringend notwendig. Schließlich hat der Europäische Menschengerichtshof (EMGR) mit einem im Dezember 2009 ergangenen Urteil der deutschen Justiz-Politik kräftig auf die Finger gehauen. Die Straßburger Richter hatten gerügt, dass die zehnjährige Begrenzung der Sicherungsverwahrung im Jahr 1998 aufgehoben wurde und somit viele Häftlinge viel länger eingesperrt sind, als sie ursprünglich befürchten mussten. Zudem kritisierte der EMGR, dass es im deutschen Gefängnisalltag praktisch keinen Unterschied zwischen den „normalen“ Häftlingen und den Sicherungsverwahrten gebe.

Ein wunder Punkt. Denn mit einem Einspieler wies Plasberg darauf hin, dass der Europäische Rat die deutsche Praxis der Sicherungsverwahrung sogar schon 2005 angemahnt hat. „Hätte die Politik da nicht schon längst etwas machen können?“, fragte er die beiden Politiker in seiner Runde scheinheilig. Volltreffer. Zwar versuchten sich sowohl Leutheusser-Schnarrenberger als auch Herrmann mit den üblichen „Da war ich doch noch gar nicht im Amt“-Entschuldigungen herauszuwinden. Doch es wurde klar: Die deutsche Politik hat jahrelang gepennt.

Ein Leidtragender ist die Polizei. Das meint zumindest Rainer Wendt, Vorsitzender der Polizeigewerkschaft. Seine Leute müssen nun die ehemaligen Häftlinge überwachen, die aufgrund des Straßburger Urteils nach und nach freikommen. Es könnten bis zu 80 Personen sein. „Der Polizei wurden die Probleme von der Politik vor die Füße gekippt“, klagte Wendt. „Die Polizei und die Bevölkerung sind stinksauer.“ Eine Rund-um-die-Uhr-Beschattung aller Betroffenen sei viel zu aufwendig und zu teuer. Auch die von Leutheusser-Schnarrenberger vorgeschlagene Fußfessel zur Bewachung entfacht bei dem Gewerkschaftsboss wenige Begeisterung. Wendt: „Diese Leute gehören hinter Schloss und Riegel.“

Ostseeinsel für Sicherungsverwahrte
Damit sprach der Beamte seiner Nebensitzerin aus dem Herzen. Gabriele Karl hat ihre Tochter 1995 an einen Serienverbrecher verloren. Sie hat daraufhin eine Opferhilfsorganisation gegründet. „Wir können einsehen, dass es Verbrechen gibt“, sagte sie. „Aber nicht, dass man Tätern noch mal die Chance gibt, Leben zu zerstören.“ Doch trotz ihrer schrecklichen persönlichen Erfahrung hat die zierliche Frau mit den grauen Haaren Verständnis für die Rechte von Straftätern. Sie schlägt vor, die Sicherungsverwahrten in eigenen, separaten Einrichtungen unterzubringen. „Das wäre sowieso gerechter. Denn warum sollen Menschen, die ihr Strafen abgesessen haben, neben den Häftlingen sitzen. Und so wäre es keine Strafe, sondern eine Maßnahme zu Besserung und Sicherung.“

Endlich kann Joachim Herrmann punkten. Genau das sei der Weg, den man gehen müsse, sagt er. „Sicherungsunterbringung“ nennt Herrmann sein Konzept, dass er in den vergangenen Wochen immer wieder ins Rennen wirft. Auch sein CDU-Kollege, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, will die Sicherungsverwahrten in Einrichtungen unterbringen, die sich von Gefängnis und Psychiatrie unterscheiden. Im Brustton der Überzeugung erklärte Herrmann: „Damit können wir im Einklang mit dem Urteil aus Straßburg die Leute hinter Schloss und Riegel halten.“ Interessant wäre es gewesen, wie die Justizministerin zu diesem Vorschlag steht. Doch die hielt sich zurück.

Dafür hielten andere Menschen nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg. Zwei Häftlinge aus einem Gefängnis in Rheinbach haben einen Brief an Moderator Plasberg geschrieben. Darin schlagen sie vor, die Sicherungsverwahrten auf eine Insel in der Nord- oder Ostsee zu verlegen. Dort könnten sie „ihre eigene Gesellschaft aufbauen“. Eine „Parodie“ sei dieser Vorschlag, kommentierte Plasberg zunächst. Doch nachdem der Kriminologie-Professor Thomas Feltes ihn belehrte, dieser Vorschlag sei gar nicht so abwegig, gab Plasberg zu: „Ich lerne“. Ob die anwesenden Politiker dies auch tun, blieb offen.

Focus, 19.08.2010

Hart, aber fair
Und die Sex-Mörder sind so frei

Donnerstag 19.08.2010, 05:58 · von FOCUS-Redakteur Josef Seitz

WDR/Herby Sachs

Die Sommerpause geht zu Ende. Und im ersten Auftritt danach liefert Frank Plasberg Gänsehaut: Wann zieht die tödliche Gefahr Triebtäter in die Nachbarschaft ein?

Es gibt Bilder, die entlarven. Die bloßlegen, was sonst wortreich zurechtgeschwurbelt wird. Es sind Bilder, die in den vergangenen Wochen wahrscheinlich fast jeder Wahlberechtigte dieses Landes gesehen haben wird. Es sind: Fotos verurteilter Verbrecher, die von einem Rudel Polizeibeamter auf Schritt und Tritt verfolgt werden, um bei jedem Schritt den Fehltritt vermeiden zu helfen.

Und der Staat läuft hinterher
Der Staat läuft hinterher. Der Verbrecher ist einen Schritt voraus. Die Botschaft, die diese Fotos in diesen Tagen auf den Punkt bringen, ist in ihrer Eindeutigkeit nicht zu überbieten. Frank Plasberg müht sich in seinem ersten „Hart aber fair“ nach der Sommerpause redlich um Zwischentöne. Es kann nicht wirklich gelingen.

Das juristische Thema – darf eine Strafe nachträglich verlängert werden? –, prallt ungebremst auf etwas so Verpöntes wie gesunden Menschenverstand. Den mag in abstrakt theoretisierenden Diskussionen niemand; den versteht aber jeder, der hinreichend Phantasie aufbringt, um sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn der Kindesmörder plötzlich zum Herrn Nachbarn wird.

Analyse kontra Angst
Ein ordentliches, wenn nicht außerordentliches Aufgebot an Diskutanten hat Plasbergs Team zustande gebracht: Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger. Bayerns Innenminister Herrmann. Bernhard Schroer, jenen Anwalt, der im Kampf um einen Mandanten die nachträgliche Sicherungsverwahrung gekippt hat. Rainer Wendt von der Polizei-Gewerkschaft und Thomas Feltes, Professor der Kriminologie. Feltes, der Wissenschaftler, hat vielleicht den schwersten Stand. Mit Statistiken, Analyse und nüchternem Wissen ist der Angst nicht zu begegnen. Das weiß der Kriminologe selbst. Deshalb mag er sich auf Frank Plasbergs Nachfrage nach dem Prozentsatz der zu erwartenden Todes- und Vergewaltigungsopfer, wenn zumindest 80 Täter in diesem Jahr freikommen werden, auch nicht an die eigenen Zahlen zu genau erinnern. Zehn Prozent war da genannt. Was acht Opfern entsprechen würde.

Die Chance, Leben zu zerstören
Umso nachvollziehbarer, umso viel mehr nachfühlbarer ist die Position der Opfer-Mutter Gabriele Karl. Sie sieht in dem Urteil, das Schwerstkriminelle in die Freiheit bringt, ganz nüchtern und wortwörtlich „die Chance für Täter, noch mehr Leben zu zerstören“. Sie sagt auch: „Der Staat hält es nicht für nötig, Sorge zu tragen, dass sich so etwas nicht wiederholt.“ Und: Die Mutter einer ermordeten Tochter präsentiert die sicher einfachste, vielleicht vernünftigste Lösung. Das europäische Recht stört sich im Grunde an der nachträglich verlängerten Strafe. Gabriele Karl, die ergraute Mutter der ermordeten Tochter, befindet: „Wir müssen nur die Sicherungsverwahrung von der Strafe entkoppeln.“

Wegsperren: ja. Strafe: nein.
Verblüffend einfach, diese Idee, jenseits der Gefängnisse eine zweite Form von Anstalten zu schaffen, die Täter hinter Gittern halten, wenn sie für die Öffentlichkeit zu gefährlich sind? Vielleicht. Zu teuer? Sicher nicht. Zwei Täter-Beispiele präsentiert „Hart aber fair“. Ein Friedhelm B. hat 1979 ein Kind ermordet und ist seitdem immer wieder straffällig geworden. Heute wird er in Freiheit von 16 Polizisten überwacht. Ein Karlheinz F. hat über Jahrzehnte Jahr für Jahr durch neue Gewalttaten Urteile angesammelt. Heute ist auch er auf freiem Fuß, und 24 Polizeibeamte folgen ihm, um das Schlimmste zu verhindern. Auch das kostet. Und keineswegs nur dem Rechtsstaat das Ansehen.

Das Leben ist hart. Aber nicht fair
Der Staat läuft hinterher. Und den blassesten Eindruck in dieser ersten Ausgabe von „Hart aber fair“ hinterlassen ausgerechnet die, deren Aufgabe es sein müsste, eine Lösung zu präsentieren. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger meldet sich kaum zu Wort. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann redet viel und schweigt doch schnell, als die Frage aufkommt, warum bei einem Problem, das seit fünf Jahren erkennbar ist, auch fünf Jahre später die Politik noch so tut, als sei europäisches Recht schicksalhaft über Deutschland hereingebrochen. Plasberg tut gut nach der Sommerpause. Doch das Leben mit all seinen Bedrohungspotenzialen ist hart. Aber eben nicht fair.

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