Die Welt, 18.10.2010

Die Antiatombewegung ist so stark wie seit den 80er-Jahren nicht mehr. Organisiert wird sie vor allem im Internet.

Der Streit über Stuttgart 21 ist noch lange nicht geschlichtet, schon droht der nächste Großkonflikt: Durch die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke haben die geplanten Proteste gegen den Castor-Transport nach Gorleben Anfang November neues Potenzial bekommen. Die Anti-Atom-Bewegung ist so stark wie zuletzt in den Achtzigerjahren. Und durch die Kommunikation in den sozialen Netzwerken ist die Mobilisierung von Demonstranten viel einfacher geworden: Für friedlichen Protest ebenso wie für gezielte Sabotage.

Schon warnt die Polizei vor heftigen Krawallen durch militante Atomkraftgegner. Die Beamten rechneten laut einer vertraulichen Einschätzung des Bundeskriminalamts (BKA) mit Massenblockaden auf Straßen und Schienen sowie gezielten Sabotageakten. Im Vergleich zu den Vorjahren sei von einem „erheblich höheren Protestniveau“, aber auch von „zunehmender Gewaltbereitschaft“ auszugehen, meldet der „Focus“.

„In den Jahrzehnten ohne Internet waren große Anti-Atom-Demonstrationen auch möglich. Der Unterschied ist, dass jetzt größerer Protest in kürzerer Zeit organisiert werden kann“, sagt Jochen Stay, Sprecher der Initiative Ausgestrahlt. Protest ist sein Hauptberuf, die Anti-Atom-Bewegung sein Lebensinhalt: Der 45-Jährige ist seit 25 Jahren Aktivist. Ein „privater Freundes- und Förderkreis“ finanziere ihn monatlich mit „kleineren Summen“, erklärt Stay. Der gebürtige Mannheimer wohnt inzwischen selbst im niedersächsischen Wendland, durch das der Castor-Transport in das Zwischenlager Gorleben rollen wird.

In diesen Tagen sitzt er viel vor seinem Computer, um alles vorzubereiten für den Tag X. Das genaue Datum des Transports gibt die Polizei nicht bekannt, aber Stay ist zuversichtlich, dass er es rechtzeitig erfahren wird. „Die zuständigen Behörden haben undichte Stellen, irgendwann sickert immer etwas durch.“ Und dann streut sich die Information ganz schnell. Twitter, Facebook, Blogs – die Aktivisten nutzen alle Plattformen, die im Internet zur Verfügung stehen.

Mit der der Ankunft des Atommülls aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague rechnen sie zwischen dem 5.und 7.?November: Ein „Castor-Ticker“ berichtet über jeden neuen Hinweis auf den möglichen Fahrplan. „Früher haben wir uns sofort hingesetzt und Tausende Briefe gedruckt und verschickt. Die kamen auch rechtzeitig an“, sagt Stay. „Aber jetzt sparen wir ein bis zwei Tage für die Aktion und haben vor allem weniger Arbeit.“

Die Anti-Atom-Veteranen fiebern dem Castor-Transport fast euphorisch entgegen: Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg spricht schon jetzt von der „größten Anti-Atom-Manifestation in der Geschichte des Wendlands“. Der 62-Jährige ist seit 1977 „dabei“. Er sagt: „Ich habe zwei Jobs.“ Seinen Unterhalt verdient er als Deutschlehrer. Seine freie Zeit widmet er der Pressearbeit seines Vereins.

Foto: dpa Wie alles begann: Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (l.) teilt auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 1977 in Hannover den folgenreichen Beschluss der Landesregierung mit, in Gorleben ein nukleares Entsorgungszentrums mit Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) zu gründen.

Foto: picture-alliance / dpa_DB_Dieter_Klar Schon damals gab es in dem Ort Proteste gegen den geplanten Bau der Atommülldeponie.

Foto: picture-alliance / dpa Der Atommüll wird in einem Salzstock gelagert.

Foto: picture-alliance / dpa Der Salzstock in Gorleben ist einem Bericht der „Frankfurter Rundschau“ zufolge bereits seit Mitte der 80er Jahre zu einem Atom-Endlager ausgebaut worden. Dieses Bild stammt aus dem Jahr 1995. Da hieß es noch, man prüfe den Salzstock auf Tauglichkeit.

Foto: picture-alliance / dpa-Zentralbild Die farbig gekennzeichnete Grubenwand wird auf ihre Tauglichkeit als Endlager geprüft. Der Salzstock Gorleben befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Atommülllager (Landkreis Lüchow-Dannenberg). Unterhalten wird dieses von der Gesellschaft für Nuklear-Service mbh (GNS).

Foto: picture-alliance / dpa-Zentralbild Bergarbeiter messen in etwa 840 Metern Tiefe einen Riss in der Grubendecke, durch den möglicherweise Wasser sickern könnte.

Foto: DDP Da der Salzstock in unmittelbarer Nähe zur Elbe liegt, ist die Gefahr eines Wassereinbruchs ein ernsthaftes Problem. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und das niedersächsische Umweltministerium bestätigten das Vorhandensein von natürlichen Salzlösungen.

Foto: dpa Eine ruhende Fördermaschine während eines Erkundungs-Stops im Jahr 2003.

Foto: AP Nach einem Urteil es Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg hat die Prüfung auf Lagertauglichkeit Vorrang vor der Salzförderung selbst. Das Gericht wies 2008 eine Klage des Eigentümers ab, der die Förderung gerichtlich erzwingen wollte.

Foto: DPA Oberirdisch geht es häufig rabiat zu. Atomkraftgegner blockieren in Harlingen bei Hitzacker die Gleise der Castor-Transportstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg.

Foto: DPA Ein Transport mit hochradioaktivem Atommüll aus der Wiederaufbereitungsanlage in den Haag. Der Salzstock in Gorleben soll nach einer internen Einschätzung des Bundesamtes für Strahlenschutz teilweise illegal zum Atom-Endlager ausgebaut worden sein.

Foto: dpa/dpaweb/dpa Das Endlager aus der Luft betrachtet. Im zentralen Gebäude (182 Meter Länge und 38 Meter Breite) werden die elektronisch überwachten und gesichtern Behälter aufbewahrt.

Foto: dpa Die Lagerhalle ist massiv aus zwei Meter dicken Stahlbetonwänden gegossen. Kühlung erfolgt durch natürliche Luftkonvektion. Über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren kühlen die Abfälle auf zirka 200 Grad Celsius ab. Aktuell lagern in Gorleben 91 Fässer.

Fast sehnsüchtig wartet der Aktivist auf den vermeintlichen Höhepunkt in seiner Heimat. In Dannenberg, auf den letzten 20 Kilometern vor Gorleben, wird der Castor-Transport von der Schiene auf die Straße verlegt. Die Bürgerinitiative will zum Auftakt der Proteste am 6. November mindestens 20.000 Menschen in Sichtweite der Schienen bringen. Demonstriert werden soll auf einem angrenzenden Maisfeld. Ehmke fügt hinzu, dass dort auch Platz für 30.000 oder 40.000 Leute sei. Beim letzten Castor-Transport 2008 sind 15.000 Menschen gekommen. „Aber diesmal“, sagt der Protestler selbstzufrieden, „können wir sicher von Zehntausenden sprechen.“

Ehmke hält den Kontakt zu den bundesweit bislang rund 60 Gruppen, die für den Tag X anreisen werden. „In den sozialen Netzwerken im Internet sind Blitzkonferenzen möglich geworden“, sagt er. „Trotzdem“, in diesem Punkt sind sich die Altaktivisten einig, „man muss auch noch real in Erscheinung treten und sich versammeln.“

Die Castor-Gegner haben unterschiedliche Methoden: Da sind einmal Wendlandveteranen wie Stay und Ehmke, die ihre Demonstration angemeldet haben und sich an die Schienen stellen wollen. Dazu kommen Gruppen, die sich auf die Schienen setzen werden. Und die darauf spekulieren, dass sie nicht strafrechtlich verfolgt werden, weil die Polizei in den letzten Jahren davon abgesehen hat.

Und dann gibt es noch einige zumeist jüngere Radikale, die mit einer extremen Aktion auf sich aufmerksam machen wollen. „Durch gemeinsames, massenhaftes und entschlossenes Schottern – also das Unterhöhlen der Gleise – stoppen wir den Castor. Mach mit!“, wirbt die Kampagne „Castor Schottern“ auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Bei vorherigen Castor-Transporten haben einzelne Demonstranten Schottersteine aus dem Gleisbett entfernt.

Jetzt wird diese Straftat zum ersten Mal kollektiv und öffentlich angekündigt: Auf einer Homepage und auf einem Profil des Online-Netzwerks Facebook haben bislang 169 Gruppen und 336 Einzelpersonen den Aufruf unterzeichnet. Darunter sind zahlreiche Anti-AKW- und Umweltgruppen, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Parlamentarier der Linkspartei. 1838 Leute „mögen“ bislang den Facebook-Auftritt der Kampagne. 234 „Anhänger“ verfolgen aktiv deren Kurznachrichten auf Twitter.

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Die für die Castor-Sicherheit zuständige Polizeidirektion Lüneburg nimmt die Kampagne sehr ernst. „Wir haben Leute, die nichts anderes machen, als alle öffentlichen Foren zu sichten“, sagt Pressesprecherin Wiebke Timmermann. Das „Schottern“ sei eindeutig ein Straftatbestand. Die rechtliche Einschätzung reiche von Sachbeschädigung bis zu einem „gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr“, erklärt Roland Kazimierski, Oberstaatsanwalt in Lüneburg.

Nicht nur die geplante Aktion selbst, sondern bereits die Kampagne im Internet sei illegal: „Die öffentliche Aufforderung zu Straftaten ist selbst für den Fall, dass sie ohne Erfolg bleibt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bedroht“, betont Kazimierski. Die Staatsanwaltschaft hat jetzt fast 500 Ermittlungsverfahren gegen die Unterzeichner des Sabotageaufrufs und die Verantwortlichen der Website von „Castor Schottern“ eingeleitet.

„Mit einer Strafverfolgung haben wir gerechnet“, sagt Tadzio Müller, Sprecher der Schotter-Kampagne. „Aber unsere Aktion ist eine notwendige und legitime Handlung, um der menschengefährdenden Atomtechnologie Einhalt zu gebieten“, behauptet der promovierte Politologe, der an der Bremer Hochschule Klimapolitik unterrichtet.

Der 34-Jährige hat bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt: Beim letzten Klimagipfel in Kopenhagen wurde Müller verhaftet. Die dänische Polizei warf ihm vor, zu Gewalt gegen Polizisten und zum Landfriedensbruch aufgerufen zu haben. Verurteilt wurde er nicht. Müller rechnet sich selbst der „aktionistischen Linken“ zu. „Mich interessiert der massenhafte Regelübertritt“, sagt der Aktivist.

„Weder Wasserwerfer noch Tränengas und Polizeiknüppel werden den Widerstand zum Schweigen bringen“ – so bekräftigen die Organisatoren von „Castor Schottern“ ihr Vorhaben. Dabei üben sie sich schon einmal in ihrer vorgeblichen Opferrolle: Nach Stuttgart 21 würden auch die Castor-Gegner damit konfrontiert, „dass schwer bewaffnete Polizisten den strahlenden Müll durchprügeln sollen.“

„Dieses Bild ist völlig absurd“, sagt Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Gerade die niedersächsische Polizei erprobt seit Jahren ein sehr erfolgreiches Konzept der Deeskalation.“ Er befürchtet hingegen Angriffe auf die zuständigen Beamten: „Aufrufe gegen den Castor-Transport könnten die Renaissance der aggressiven Anti-Atom-Proteste herbeiführen.“ Es drohe der größte und längste Castor-Einsatz in der Geschichte, so Wendt.

Sorgen bereitet den Sicherheitsbehörden laut „Focus“ auch eine mögliche größere „Einflussnahme linksextremistischer Gruppen auf die bürgerliche Protestbewegung“. So sei nicht auszuschließen, heißt es mit Blick auf die vertrauliche BKA-Lageeinschätzung, dass sich autonome Gruppen an den Castor-Blockaden beteiligen. Das BKA zählte seit Jahresbeginn im Bereich Atomkraft bundesweit mehr als 80 politisch motivierte Straftaten von links. Die Delikte reichen von Beleidigung über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz bis hin zu Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Brandstiftung.

Jochen Stay widerspricht solchen Befürchtungen: „Das BKA hat entweder keine Ahnung von den Verhältnissen vor Ort oder schürt bewusst Ängste. Derzeit gibt es keine ernst zu nehmenden Anzeichen dafür, dass es rund um den Castor-Transport zu Gewalt vonseiten der Anti-AKW-Bewegung kommt.“

Selbst die „angekündigte Entnahme von Schottersteinen aus einer Bahnlinie, die für den regulären Zugverkehr gesperrt ist, ist zwar nicht legal, aber hat nichts mit Krawall oder Gewalt zu tun“, meint er. Die Initiatoren von „Castor Schottern“ jedenfalls erwarten „Tausende“ Menschen“ an den Gleisen.

Will man solche Massenproteste wie im Wendland heute organisieren, kommt „niemand mehr an einem Auftritt im Web 2.0 vorbei“, sagt Social-Media-Experte Daniel Kruse von der Agentur Nest. Kruse organisiert Kampagnen für Kunden wie den WWF oder die Caritas. Er kennt die Mechanismen: „Wenn ich bei Facebook etwas veröffentliche und meine Freunde im Netz das weitertragen, kann ich zum Beispiel auch Leute erreichen, die bisher nicht in der Anti-Atom-Bewegung aktiv waren.“

Kruse verweist auf das Aktionsnetzwerk Campact. „Dessen Online-Petitionen gegen die Laufzeitverlängerung waren bisher sehr erfolgreich. Über 100.000 Unterzeichner in wenigen Tagen – das kriegt man auf der Straße gar nicht hin.“ Die Macher von Campact sind Protestprofis. Sie finanzieren sich über Spenden, agieren wie PR-Strategen und haben es auf eine bestimmte Zielgruppe abgesehen: Menschen, die bisher noch nicht politisch aktiv waren. Über die Unterzeichnung einer Online-Petition wollen sie Menschen dazu bringen, sich zum ersten Mal an einer Demonstration zu beteiligen.

Wie schnell die Mobilisierung im Web 2.0 funktioniert, hat Campact dieses Jahr bereits bewiesen: „Wir haben sämtliche Entscheidungen der Regierung zur Atompolitik mit Protesten begleitet – jedes Mal sehr kurzfristig und innerhalb von wenigen Stunden organisiert“, sagt Geschäftsführer Christoph Bautz. So auch bei der endgültigen Entscheidung zur Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke am 5. September.

„Freitags hatten wir herausbekommen, dass am Sonntag die Entscheidung ansteht. Wir haben sofort Aufrufe an 30.000 Berliner gesendet, und am Sonntagmittag standen 2000 Leute vor dem Kanzleramt und haben demonstriert.“ Campact sendet an alle Newsletter-Abonnenten Aufrufe per E-Mail, flankiert von Meldungen auf Facebook und Twitter. Werbebanner für Aktionen werden auf politischen Blogs eingesetzt, Fotos von medienwirksamen Protesten gibt es auf der Website Flickr zu sehen, Videos auf der Plattform Youtube. Rund 300.000 Adressen hat die Organisation in ihrem E-Mail-Verteiler.

Campact unterstützt die Mobilisierung für die Auftaktdemonstration am 6. November. Von „Castor Schottern“, distanziert sich Politwerber Bautz allerdings ebenso wie die Altaktivisten Stay und Ehmke. Für seine Zielgruppe sei die „Hemmschwelle zum Schottern zu hoch“.

Ihren virtuellen Freunden scheinen die „Schotterer“ selbst nicht voll zu vertrauen. „Für die Mobilisierung ist das Web 2.0 enorm wichtig“, sagt Müller. „Aber zentral bleiben weiterhin die organisatorischen Treffen in den Gruppen selbst. Dann erst sieht man, wer wirklich dabei ist und sich nicht nur einfach so bei Facebook eingetragen hat.“ Endgültig realisieren werden die Aktivisten ihr Potenzial wohl erst am Tag X selbst. Die Polizeidirektion Lüneburg stellt vorsichtshalber schon einmal klar: „Friedlichen Protest lassen wir natürlich zu. Die Handvoll gewalttätiger Aktionen aber müssen wir davon differenzieren.“

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