Handelsblatt, 13.09.2010

Bund soll helfen:
Polizei stößt wegen „Stuttgart 21“ an ihre Grenzen

Die Polizei in Baden-Württemberg stößt nach Auffassung der Deutschen Polizeigewerkschaft wegen der Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 schon bald an ihre Grenzen. Um Engpässe zu vermeiden, müssen möglicherweise der Bund und die anderen Bundesländer Kräfte in den Südwesten entsenden. Das würde aber nicht ohne Folgen für andere Einsätze sein.

von Dietmar Neuerer

DÜSSELDORF. Angesichts der anhaltenden Proteste gegen das das umstrittene Bahnprojekt „Stuttgart 21“ fordert die Deutsche Polizeigewerkschaft zur Absicherung des Bauvorhabens polizeiliche Unterstützung aus Bund und Ländern. „Die Polizei in Baden-Württemberg wird den Polizeieinsatz nicht mehr lange alleine schultern können, deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, wann auch Kräfte anderer Bundesländer und der Bundespolizei Unterstützung leisten müssen“, sagte der Gewerkschaftsvorsitzende Rainer Wendt Handelsblatt Online. Er fügte hinzu: „Dieselben Einsatzkräfte können dann übrigens nicht gleichzeitig Castor-Transport, Rechts-Links-Demos und Fußballspiele begleiten oder freigelassene Gewalttäter bewachen – und demnächst Anti-Atom-Demos überall in Deutschland.“

Auch das Stuttgarter Innenministerium meinte vor kurzem, die Polizei stoße durch die Belastung an ihre Grenze. Im Südwesten sei zwar noch alles „im grünen Bereich“, sagte ein Sprecher. Bei anderen Einsätzen gebe es wegen „Stuttgart 21“ keine Engpässe. „Was aber passieren kann ist, dass wir Einsätze in anderen Ländern überdenken“, sagte der Sprecher. Laut „Stuttgarter Nachrichten“ spricht die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sogar von einem „Personalkollaps“. Der Bürger stehe jetzt schon vor verschlossenen Polizeiposten, sagte der GdP-Landeschef Rüdiger Seidenspinner der Zeitung.

Wendt bezifferte die bisher angefallenen Kosten der Polizeieinsätze für „Stuttgart 21“ auf mehr als drei Millionen Euro. Solange nur Baden-Württembergs Beamte eingesetzt werden, müsse das Land die Kosten selbst tragen. „Die Polizeien des Bundes und der Länder unterstützen sich solidarisch und schreiben nur für Überstunden und Sachkosten Rechnungen“, sagte er.

Vor diesem Hintergrund riet Wendt der Landesregierung in Stuttgart, „gemeinsam mit der Deutschen Bahn und ohne gleichzeitigen Abrisslärm das Gespräch mit den Kritikern zu suchen und Überzeugungsarbeit zu leisten“. Zudem regte der Polizeigewerkschafter an, dass der Bauträger seinen Bauzaun auf eigene Kosten selbst sichert. „Dazu gibt es private Objektschutzkräfte, Aufgabe der Polizei ist es ohnehin nicht, Baustellen und Bauzäune zu bewachen“, betonte Wendt.

Gegen das umstrittene Bahnprojekt gibt es massive Proteste der Bevölkerung. Am Freitagabend gingen nach Polizeiangaben 35 000 Menschen in Stuttgart auf die Straße. Die Veranstalter sprachen von mehr als 69 000 – was ein neuer Rekord gewesen wäre. In einem „Stuttgarter Appell“ forderten bisher mehr als 54 000 Menschen einen Baustopp und eine Bürgerbefragung zu dem Milliardenvorhaben. Die oppositionelle SPD spricht sich für eine Volksabstimmung über das Bahnprojekt aus.

Die Regierungsparteien CDU und FDP lehnten es aber ab, entsprechend die Landesverfassung zu ändern. Dafür wäre aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig. Die Abrissarbeiten am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofes gingen am Samstag unterdessen weiter.

Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann, der zuletzt versucht hatte, Gegner und Befürworter an einen Tisch zu bekommen, will eine solche Vermittlerrolle in Zukunft nicht noch einmal einnehmen. „Ich habe mich für ein erstes Gespräch von Befürwortern und Gegnern ohne Bedingungen weit aus dem Fenster gehängt und habe dafür einige Blessuren abbekommen“, begründete der Grünen-Politiker im „Focus“ seine Absage für ein Spitzengespräch der Konfliktparteien.

Nach „Spiegel“-Informationen gab es vor der Amtszeit Grubes bereits Widerstand bei der Bahn gegen das Projekt. So habe der Bahn- Vorstand Stuttgart 21 schon 1994 als unwirtschaftlich abgelehnt, berichtete das Blatt unter Berufung auf ein internes Vorstandspapier. Ein Bahnsprecher sagte dazu, 16 Jahre alte Dokumente wolle man nicht kommentieren. „Fakt ist: Das Projekt ist wirtschaftlich und bleibt wirtschaftlich.“

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