Berliner Morgenpost, 03.05.2010
Nach Sitzblockade
Staatsanwalt prüft Anfangsverdacht gegen Thierse
Der Jubel über die Sitzblockade von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) gegen eine Rechtendemonstration am 1. Mai ist schnell verebbt. Derzeit prüft die Berliner Staatsanwaltschaft sogar, ob gegen Thierse der Anfangsverdacht einer Straftat vorliegt. Die Polizeigewerkschaft fordert Thierses Rücktritt. Und auch in seiner eigenen Partei wird Kritik laut.
Die Sitzblockade gegen eine Demonstration von Rechtsextremisten am 1. Mai hat für Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) möglicherweise juristische Folgen. Wie ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft Morgenpost Onliane sagte, prüfe die Behörde, ob es den Anfangsverdacht einer Straftat gibt.
Von den Ermittlungen betroffen sind auch der Grünen-Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wieland und der Bezirksbürgermeister von Berlin-Pankow, Matthias Köhne (SPD), die sich ebenfalls an der Sitzblockade beteiligt hatten. Ein solcher Protest gegen eine erlaubte Demonstration kann als Ordnungswidrigkeit oder auch als Nötigung gewertet werden.
Inzwischen kommt auch von Politikern der SPD heftige Kritik. Im Berliner Innenausschuss sagte der verfassungspolitische Sprecher der SPD, Fritz Felgentreu: „Es kann nicht sein, dass Politiker, die Vorbildfunktion haben, offensichtlichen Rechtsbruch begehen.“ Er fügte hinzu: „Es darf auch nicht sein, dass man seine Immunität schamlos ausnutzt. Ich kann nur mit dem Kopf schütteln.“
Die SPD-Abgeordnete Anja Härtel sagte: „Ich habe ein Problem mit Demokraten, die meinen, sich über das Gesetz stellen zu können. Das darf nicht sein.“ Es sei auch nicht besonders mutig, mit seinem Abgeordnetenausweis durch die Polizeisperren zu gehen, sich dann unter Polizeischutz auf die Straße zu setzen, um schließlich umgehend Interviews zu geben.
Am Samstag hatte es noch Jubel wegen Thierses Aktion gegeben, doch sie war schnell in Kritik übergagangen: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der sich in Berlin an einer Sitzblockade gegen eine Neonazi-Demonstration beteiligt hatte, soll zurücktreten, forderte die Deutsche Polizeigewerkschaft. Begründung: Thierse habe Polizeibeamte behindert – das passe nicht zu seinem Amt.
Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, sagte: „Herr Thierse hat Einsatzkräfte der Polizei behindert.“ Das sei Nötigung. „Aber viel schlimmer ist, dass jemand, der ein so hohes Staatsamt bekleidet, öffentlich Rechtsbruch zelebriert“, sagte Wendt dem Nachrichtensender N24. „Er sollte seinen Hut nehmen.“
Rund 700 NPD-Anhänger wollten am Samstag quer durch Thierses Berliner Wahlkreis ziehen. Angesichts von 6000 Gegendemonstranten und wiederholten Sitzblockaden mussten die Rechtsextremen aber nach einigen hundert Metern umkehren. Unter dem Applaus der Demonstranten hinter den Polizeiabsperrungen hatte auch Thierse mit weiteren Berliner Politikern den Zug kurzzeitig blockiert. Nach einer ähnlichen Blockade im Februar in Dresden hatte die dortige Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen mehrere Linken-Landespolitiker aufgenommen.
Ähnlich wie Wendt äußerte sich am Montag der Berliner FDP- Innenpolitiker Björn Jotzo. Er sprach von einer unerträglichen und rechtswidrigen „PR-Sitzblockade“ Thierses. „Es ist völlig inakzeptabel, wenn Mitglieder von Verfassungsinstitutionen mithilfe ihrer Abgeordnetenprivilegien Polizeisperren überwinden und dann anschließend in unverantwortlicher Weise und offensichtlich rechtswidrig die Grundrechte anderer Bürger missachten und die Arbeit der Polizei erschweren.“ Thierse habe aus „reiner Öffentlichkeitsgeilheit“ eine Verschärfung der Lage in Kauf genommen.