Schwäbische Zeitung, 04.09.2010
(Stuttgart/lsw) Stuttgart 21 wird immer stärker zum Wahlkampfthema: Nachdem SPD und Grüne bei Umfragen zum Höhenflug angesetzt haben, machen sie sich schon Gedanken um eine neue Koalition. Derweil steht der geplante Gipfel von Befürworten und Gegnern wieder auf der Kippe.
Lange bevor SPD und Grüne konkret über eine Regierungsbildung im Südwesten nachdenken könnten, ist mit Stuttgart 21 schon ein Konfliktthema für mögliche Koalitionsverhandlungen ausgemacht. Die Grünen haben die SPD am Sonntag davor gewarnt, den Widerstand aus ihrer Partei gegen das Bahnprojekt zu unterschätzen. Stuttgart 21 wäre eine Kernthema bei möglichen Verhandlungen. „Wir werden keine Koalition eingehen, in der Kernforderungen von uns nicht erfüllt werden“, teilten Parteichefin Silke Krebs und Fraktionschef Winfried Kretschmann am Sonntag mit.
SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel hingegen ist überzeugt davon, dass auch die Grünen den Bau des unterirdischen Hauptbahnhofs letztlich akzeptieren. Schmiedel sagte der Nachrichtenagentur dpa, bei den Grünen setze sich langsam aber sicher die Einsicht durch, dass Stuttgart 21 nicht mehr zu stoppen sei. „Man nimmt die Realität ins Auge.“ Eine mögliche rot-grüne Landesregierung werde an diesem Thema nicht scheitern. SPD und Grüne könnten laut einer aktuellen Umfrage bei der Landtagswahl im kommenden März nach über 50 Jahren gemeinsam die CDU aus der Regierung jagen.
„Die Wählerschaft beider Parteien würde es nicht verstehen, wenn diese Gelegenheit nicht genützt würde, die CDU nach über einem halben Jahrhundert in die Opposition zu schicken“, sagte Schmiedel. Kretschmann hingegen betonte im Gespräch mit der dpa, für die Grünen sei der Kampf gegen Stuttgart 21 bei der Landtagswahl essenziell. „Von uns gibt es die klare Aussage, dass wir Stuttgart 21 verhindern wollen — und davon rücken wir auch nicht ab“, sagte Kretschmann. Damit wisse der Wähler genau, wo er bei den Grünen dran sei. Das Problem habe nun die SPD, die in der Frage gespalten ist. Derweil steht der für Freitag geplante S21-Gipfel von Befürwortern und Gegnern wieder auf der Kippe. Zwar versprachen Bahn und Land, die Abrissarbeiten am Hauptbahnhof während des Gesprächs ruhen zu lassen. Diese „Geste“ an die Gegner hätten Bahn-Chef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) ausgemacht, bestätigte ein Regierungssprecher. Die „Parkschützer“ halten dies aber für „eine Farce“ und sagten ihre Teilnahme ab, wie Sprecher Matthias von Hermann am Sonntagabend mitteilte. Wenn der Abriss des Nordflügels am Bahnhofs in der momentanen Geschwindigkeit weiterlaufe, sei er bis Freitag komplett zerstört. Das „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“, das ebenfalls teilnehmen wollte, will sich am Montag entscheiden. Wann genau und wo sich der S21-Gipfel trifft, steht noch nicht fest.
Vertreter aus der Wirtschaft stellten sich unterdessen mehrheitlich hinter das Milliardenprojekt. Südwestmetall-Chef Rainer Dulger betonte in einer Umfrage der Nachrichtenagentur dpa: „Wer langfristig die Voraussetzungen dafür schaffen will, dass auch kommende Generationen in einer starken Wirtschaftsregion mit einer zeitgemäßen Infrastruktur leben und arbeiten, kommt an Stuttgart 21 nicht vorbei.“ Die IG Metall zeigte sich dagegen gespalten.
Für neuen Wirbel sorgte Grünen-Verkehrsexperte Winfried Hermann. Im „Spiegel“ warte er vor einer Kostenexplosion bei der geplanten ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecke Stuttgart-Ulm. Seine Partei werde am Mittwoch mit einem neuen Gutachten belegen, dass die Strecke mehr als fünf Milliarden Euro kosten werde und nicht wie von der Bahn berechnet 2,9 Milliarden. Allerdings erntete Hermann selbst aus den eigenen Reihen Widerspruch: Sein Parteikollege Werner Wölfle sagte dem Südwestrundfunk (SWR), das Gutachten sei noch gar nicht fertig und werde auch keine genauen Zahlen enthalten, sondern eine ganze Bandbreite von möglichen Kostensteigerungen. Auch die Bahn wies Hermanns Prognosen als unzutreffend zurück.
Die Polizei richtet sich wegen der anhaltenden Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 auf einen langwierigen Ausnahmezustand ein. „Wir gehen davon aus, dass die laufenden Abrissarbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof weiterhin beschützt werden müssen“, sagte der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lautensack, der dpa. Zuletzt hatten am Freitagabend mehrere zehntausend Menschen gegen Stuttgart 21 protestiert. Aktivisten begannen damit, Bäume zu besetzen.
Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) warf den Gegnern des Bahnprojekts vor, ihre Frustration zu Unrecht nur bei ihm abzuladen. „Es gab Hunderte von Diskussionen und Tausende von Anregungen vor der Beschlussfassung über das Projekt. Jetzt ist es entschieden, die Bahn baut. Da sitzt der Oberbürgermeister nicht mehr auf dem Fahrersitz“, sagte er im Interview der „Stuttgarter Zeitung“.
Die Forderung der Demonstranten nach einem modernisierten Kopfbahnhof K21 ist auch nach Ansicht des Stuttgarter Professors für Eisenbahn- und Verkehrswesen, Gerhard Heimerl, keine sinnvolle Alternative. K21 würde ähnlich viel Geld kosten wie der geplante unterirdische Bahnhof — bei deutlich weniger Vorteilen.