Handelsblatt:
Angst um Sachsens Ruf
Tillich mischt sich in Handy-Affäre ein
Im Wirbel um die in Sachsen zahlreich erfassten Handydaten meldet sich Ministerpräsident Tillich zu Wort. Er fürchtet, die Lautstärke, mit der die Debatte geführt wird, könne Sachsen schaden.
ChemnitzSachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) hat den Einsatz technischer Hilfsmittel bei der Bekämpfung und Aufklärung von Verbrechen gerechtfertigt. Der Bürger erwarte, dass die Polizei ihn schütze und Straftaten bekämpfe, sagte Tillich der Chemnitzer „Freien Presse“ laut Vorabbericht.
Zugleich räumte er „Reparaturbedarf“ bei der rechtlichen Nutzung von Handy-Daten ein. Es ärgere ihn, dass die bundesweiten Schallwellen der Affäre das Image Sachsens belasten könnten.
Am 19. Februar hatte es in Dresden teils gewalttätige Proteste gegen einen geplanten Aufmarsch von Neonazis gegeben. Die Ermittler erfassten mehr als eine Million Handydaten. Ins Visier gerieten auch Anwohner und friedliche Demonstranten. Die CDU/FDP-Regierung räumte eine unzulässige Nutzung der Daten in 45 Fällen durch die Polizei ein, hält das Vorgehen der Fahnder im Kern aber für gerechtfertigt.
dapd
net tribune.de:
02. Juli 2011
Dresdner Datenskandal: Wer kontrolliert eigentlich die Polizei?
Dresden/Berlin – Nach dem Datenskandal in Dresden werden Forderungen laut, die Arbeit der Polizei stärker zu kontrollieren. „Das skandalöse Vorgehen der Dresdner Polizei gegen Menschen, die sich am 19. Februar 2011 an Anti-Nazi-Aktivitäten beteiligten, ist der beste Beweis dafür, dass mehr Kontrolle nötig ist“, schreibt Linke-Bundesgeschäftsführerin Caren Lay in einem Beitrag für die Wochenendausgabe der „taz“. Die Deutsche Polizeigewerkschaft lehnt das ab. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) rechtfertigte unterdessen den Einsatz technischer Hilfsmittel bei der Bekämpfung und Aufklärung von Verbrechen.
Am 19. Februar hatte es in Dresden teils gewalttätige Proteste gegen einen geplanten Aufmarsch von Neonazis gegeben. Die Ermittler erfassten dabei mehr als eine Million Handydaten von rund 330.000 Mobilfunkgeräten. Ins Visier gerieten auch Anwohner und friedliche Demonstranten. Die CDU/FDP-Regierung in Sachsen räumte eine unzulässige Nutzung der Daten in 45 Fällen durch die Polizei ein, hält das Vorgehen der Fahnder im Kern aber für gerechtfertigt.
Es müsse eine unabhängige Beschwerdestelle für Bürger eingerichtet werden. Zudem müssten die parlamentarischen Kontrollgremien gestärkt werden, forderte die Linke-Politikerin Lay, die an der Demonstration in Dresden teilgenommen hatte.
Die Deutsche Polizeigewerkschaft wandte sich gegen schärfere Kontrollen der Ermittler. „Am Ende stehen mehr Bürokratie, geringere Effektivität der Polizeiarbeit und skurriler Unfug wie Namensschilder oder Nummern auf Polizeiuniformen“, schrieb der Bundesvorsitzende Rainer Wendt in der „taz“. Die Polizei sei in Deutschland vom überwältigenden Vertrauen der Bevölkerung getragen: „Das sollten die Möchtegern-Kontrolleure erst einmal erreichen.“ Nach Ansicht Wendts reicht die bestehende Kontrolle aus. „Keine staatliche Verwaltung ist mit einer solchen Fülle von Vorschriften und Kontrollen konfrontiert wie die Polizei.“
Tillich sagte der Chemnitzer „Freien Presse“ (Samstagausgabe), der Bürger erwarte, dass die Polizei ihn schütze und Straftaten bekämpfe. Es ärgere ihn, dass mit der bundesweiten Berichterstattung über die Affäre das Image Sachsens belastet werden könnte.
sz-online:
Samstag, 2. Juli 2011
(Sächsische Zeitung)
SÄCHSISCH BETRACHTET
Hallo, hier hört die Polizei!
Von Von Gunnar Saft
Keine Angst, beim Lesen Ihrer Tageszeitung können sie nicht belauscht werden – nur telefonieren müssen Sie weiterhin auf eigene Gefahr.
WENN bei einer Quiz-Show die Millionenmarke geknackt wird, klatschen alle Zuschauer wie wild Beifall, und es regnet Gold-Lametta von der Studiodecke. Nur bei Sachsens Polizei ist das anders. Kaum hat man dort den inoffiziellen Weltrekord beim Handyausspähen errungen, hagelt es nur noch Vorwürfe und Buhrufe. Das ist ungerecht. Weiß eigentlich niemand, wie aufwendig es ist, über eine Million Datensätze erst zu speichern und dann auszuwerten? Ohne richterliche Flatrate schafft das keiner.
UND was soll die Polizei nun mit diesem digitalen Datengebirge tun? Mein Vorschlag: das Projekt Volks-Ohr. Das sorgt für mehr Bürgerservice und zusätzliche Einnahmen in der Landeskasse. Selbst das Werbemotto passt auf jede Polizeiautotür: „Wir hören und handeln!“ Und wie funktioniert so etwas? Nehmen wir einen jungen Mann, dessen Freundin übers Wochenende zu ihren Eltern reisen will. Weil der Mann aber misstrauisch ist, ruft er die Polizei an, die ihm sofort sagt, wo das Handy seiner Liebsten gerade eingeloggt ist. Macht 15 Euro. Wenn er noch misstrauischer ist, lässt er sich auch gleich die Ortungsdaten vom Handy seines besten Freundes geben. Als noch mal 15 Euro. Und wenn sich dann herausstellt, dass die beiden georteten Geräte zurzeit in der Wohnung des Kumpels praktisch aufeinanderliegen, kann die Polizei dem Gehörnten prompt ein Paketangebot machen: Taxi für ihn rufen, den Notarzt losschicken und selbst per Streifenwagen pünktlich am Tatort sein. Macht 150 Euro plus eine hohe Aufklärungsquote. Gratis gibt es dann beim ersten Verhör den tröstenden Standardsatz: „Wir helfen doch immer gern!“
NOCH viel mehr ist möglich, wenn dieses System später perfektioniert wird – man also Beamtenohren und Datenserver der Telefonunternehmen rund um die Uhr glühen lässt. Bald gäbe es in Sachsen keine Kriminalität mehr, weil jeder Ganove sofort verhaftet wird, kaum dass er sich per Handy mit Komplizen verabredet. Ehrliche Bürger hätten dagegen gar nichts zu befürchten. Es sei denn, sie sind so nachlässig und brüllen ins Mikrofon „Geht klar, Chef, ich lege die heute noch um!“, ohne während des Telefonats erwähnt zu haben, dass man als Forstarbeiter sein Geld verdient.
DOCH halt, auch ich als Journalist muss bei dem Thema einen Beitrag leisten. Daher fordere ich Sachsens Polizeiminister und seinen Kollegen aus dem Justizressort auf: Hört endlich mein Handy ab! Besonders empfehle ich die Anrufe der eigenen Parteifreunde aus CDU und FDP. Mancher von denen kann schlimmer schimpfen als die Opposition. Und wenn die Minister hören, was viele ihrer Kollegen tatsächlich vom jüngsten Ausspährekord halten, dürfte es ihnen eiskalt übern Rücken schaudern. Beide Lauscher werden zittern wie Espenlaub, und ich werde nicht auflegen. Strafe muss schließlich sein!
Freie Presse:
Permanente Besetzung der Polizei nicht geplant
Dienststelle in Limbach-Oberfrohna verliert Revier-Status
Chemnitz (fp). Limbach-OberfrohnaEine permanente personelle Besetzung des Polizeistandortes Limbach-Oberfrohna ist in Zukunft nicht mehr geplant. Das teilt der Sprecher des sächsischen Innenministeriums, Frank Wend, auf Anfrage mit.
Die anfallenden polizeilichen Aufgaben in Limbach-Oberfrohna würden in der Nacht durch das örtlich zuständige Polizeirevier Glauchau wahrgenommen“, so Wend weiter.Geht es nach dem Landtagsabgeordnete Jan Hippold (CDU), ist das letzte Wort zu diesem Thema noch nicht gesprochen.
erschienen am 02.07.2011
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Ministerpräsident sieht Reparaturbedarf
Skandal um abgeschöpfte Handy-Daten im Mittelpunkt eines Redaktionsgesprächs mit der „Freien Presse“
Chemnitz. Seine Worte wählt Stanislaw Tillich gewöhnlich sehr sorgfältig, und gern schiebt er einen relativierenden Nebensatz in seine Erklärungen. Das gilt auch für seinen Umgang mit der Handy-Daten-Affäre und ihren bundesweiten Schall-Wellen. „Natürlich ärgert mich das“, räumt Sachsens Ministerpräsident ein. Damit meint er nicht nur den Schaden für das Image des Freistaats. Es ist auch die Schieflage im öffentlichen Erscheinungsbild, die er empfindet und zu korrigieren sucht. Eine Million Handy-Daten? „Das sind sogenannte Verkehrsdaten, aber keine Gespräche, die abgehört oder mitgeschrieben worden sind“, stellt Tillich klar. Wichtig sei diese Botschaft, setzt er nach. Und zweitens habe es sich um keine Entscheidung der Polizei, sondern um einen richterlichen Beschluss im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens zu Straftaten am Rande der Demonstration am 19. Februar in Dresden gehandelt.
Über allem steht die Überzeugung, dass zur Aufklärung und Bekämpfung von Verbrechen technische Hilfsmittel eingesetzt werden müssten. „Nur durch Funküberwachung ist die sogenannte Sauerland-Bande ermittelt worden“, gibt Tillich zu bedenken, ebenso eine Gruppe gewalttätiger Fußball-Hooligans in der Dresdner Neustadt. Der Bürger erwarte, dass die Polizei ihn schütze und Straftaten bekämpfe, sagt Tillich. Doch ebenso mache sich der eine oder andere unbescholtene Bürger Sorgen, dass seine Privatsphäre verletzt werden könnte, räumt er ein. Nach einigen Tagen würden ohnehin alle Daten beim Funknetzbetreiber gelöscht, schiebt er nach. Ob das auch für Verfahren zutrifft, die im Zuge von Gewalt am Rande der Demonstrationen des 19. Februar anhängig sind? „Da müssen Sie die Staatsanwaltschaft fragen“, antwortet Tillich. „Reparaturbedarf“ räumt der Ministerpräsident bei der Erhebung und Auswertung von Funkzellendaten ein. Mit einer Initiative im Bundesrat soll der Paragraf 100g der Strafprozessordnung, der dafür als Grundlage dient, überarbeitet werden.
Jetzt habe sich der Rechtsbegriff einer „Straftat von erheblicher Bedeutung“ als zu unpräzise erwiesen. Man müsse zwischen einem Blockierer und jemanden unterscheiden, der mit einer Eisenstange auf einen Polizisten wirft. In Dresden waren 45 friedliche Blockierer fälschlicherweise durch Handy-Daten in den Verdacht geraten, eine schwere Straftat begangen zu haben. Ob der Innen- oder Justizminister noch um ihren Stuhl bangen müssen? Mit der Versetzung des Dresdner Polizeipräsidenten Dieter Hanitsch seien Konsequenzen gezogen worden, lautet die Botschaft Tillichs. Der Polizeipräsident habe Innenminister Markus Ulbig (CDU) nach dessen Angaben nur scheibchenweise informiert. Auf den Hinweis, dass die Polizei von einem „Bauernopfer“ spricht, geht Tillich nicht ein. Unterstützung leistet er auch seinem Justizminister Jürgen Martens (FDP). „Man stelle sich vor, der Justizminister hätte sich in das Verfahren eingeschaltet“, malt Tillich negative Schlagzeilen bereits an die Wand. Das von ihm als gut beschriebene Verhältnis zum Koalitionspartner FDP habe durch die Handy-Daten-Affäre keinen Schaden erlitten, versichert Tillich. „Unser liberaler Partner hat die Diskussion lediglich für seine Vorstellungen von Vorratsdatenspeicherung aufgenommen.“
Beim Lieblingsthema der FDP zeigt Tillich Entgegenkommen: Steuersenkungen hält er für erstrebenswert, solange der Bund mit den Folgen von Mindereinnahmen nicht die Länder belaste. „Die Menschen müssen von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung profitieren.“ Für Einwände der Nachbarländer Thüringen und Sachsen-Anhalt zeigt er Verständnis. Deren finanzielle Konsolidierungsmaßnahmen ließen kaum Spielräume zu. „Ich freue mich, dass wir in Sachsen noch handlungsfähig sind“, sagt Tillich mit Hinweis auf zusätzlich aufgelegte Investitionsprogramme.
Optimistisch beurteilt Tillich die Zukunft der Regierungsehe von CDU und FDP. Sachsen sei das einzige Bundesland mit einer stabilen schwarz-gelben Mehrheit. Das schreibt er auch dem Zustand der sächsischen FDP zu, die sich erheblich besser präsentiere als die Bundespartei. Als Ziel für die zweite Hälfte seiner Amtsperiode nennt Tillich die Forcierung der eingeleiteten „Staatsmodernisierung“, den Umstieg in der Energiepolitik und hier die Vernetzung der Elektromobilität. „Sachsen ist das einzige Bundesland, wo die Wertschöpfungskette für die Elektromobilität schon vollständig vorhanden ist“, sagt der Regierungschef. Bei der Verzahnung von Wirtschaft und Wissenschaft setzt er vor allem auf die Kompetenz der in Sachsen ansässigen Forschungseinrichtungen wie Fraunhofer, Max Planck und Helmholtz.
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Technik zum Überwachen
Im Zuge der Handy-Daten-Affäre wird auch über den Einsatz eines sogenannten IMSI-Catchers während der Demonstration am 19. Februar in Dresden gestritten. Das Gerät ermöglicht die Ortung und Identifizierung von Mobiltelefonen innerhalb einer Funkzelle sowie die Erstellung von Bewegungsprofilen von Handy-Nutzern. Mit Zusatztechnik erlaubt der IMSI-Catcher auch das Abhören von Telefonaten und Mitlesen von Kurznachrichten (SMS). Die Staatsanwaltschaft Dresden räumte den Einsatz des Gerätes ein. Grundlage sei eine richterliche Anordnung wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gewesen. Es seien die Gespräche und SMS von zwei Handy-Nummern überwacht worden. (te)
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Handy-Daten-Affäre bekommt langes Nachspiel im Parlament
Die Handy-Daten-Affäre der sächsischen Polizei und Justiz vom Februar 2011 hat ein langes Nachspiel auf parlamentarischer Ebene. So haben Grüne, Linke und SPD in Dresden für nächsten Freitag eine Sondersitzung des Rechtsausschusses beantragt. Sie wollen bis August einen großen Bericht über die Erhebung von einer Million Handy-Daten von 332.000 Rufnummern in Dresden während der Proteste gegen einen Neonaziaufmarsch am 19. Februar. Im September geht die Daten-Affäre erneut in den Landtag.
Bisher hat die Landesregierung nur zögerlich und bruchstückhaft eingeräumt, was mit den Daten geschehen ist. Ursprünglich ging es nur um für Bewegungsprofile notwendige Daten.
Dann wurde bekannt, dass in erheblichem Ausmaß Handy-Besitzer identifiziert und deren Daten im Zusammenhang mit anderen Verfahren verwendet wurden, was unrechtmäßig war. Zuletzt wurde das Abhören von Gesprächen und das Mitlesen von SMS eingestanden. Nach wie vor sind die Daten noch nicht gelöscht.
Umstritten ist vor allem das Ausmaß der Ausspähaktion. Sachsens Datenschützer kritisieren, dass Grund- und Persönlichkeitsrechte bei einer enorm hohen Zahl Unbeteiligter verletzt wurden. Fraglich ist auch, ob Gewalttäter unter Demonstranten mit dieser Methode überhaupt dingfest gemacht werden können. (uk)