Spiegel online, 04.05.2011
Mammutaufgabe für den Gesetzgeber
Von Julia Jüttner
Teile der Sicherungsverwahrung widersprechen dem Grundgesetz, so entschied es das Bundesverfassungsgericht. Dass jetzt Hunderte Schwerverbrecher sofort auf freien Fuß kommen, ist nicht zu befürchten. Doch jeder Einzelfall wird überprüft – und die Regierung muss ein neues Gesetz abliefern.
Karlsruhe – Das Urteil des höchsten deutschen Gerichts wurde mit Spannung erwartet, doch das Ergebnis geriet vor lauter Paragrafenaufzählung und juristischer Fachtermini fast in den Hintergrund. Erst nach minutenlanger Verlesung war klar: Das Bundesverfassungsgericht hatte an diesem Mittwochmorgen die Regelungen zur Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter für verfassungswidrig erklärt. Die geltenden Regelungen verletzten das Grundrecht auf Freiheit, entschieden die Richter.
Das Urteil sei „weitgehend einstimmig“ gefällt worden, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Damit folgen die Karlsruher Richter teilweise dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom Dezember 2009. Der EGMR hatte es für unzulässig erklärt, dass die Sicherungsverwahrung verurteilter Täter rückwirkend verlängert werden kann.
Mit der Entscheidung gab das Gericht den Verfassungsbeschwerden von vier Männern aus Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen statt: Geklagt hatten die verurteilten Sexualstraftäter David G. und Peter B., die unter anderem wegen fortwährender Gefährlichkeit und „sadistischen Neigungen“ zu einer anschließenden Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren, sowie Daniel I. und Wolfgang G., beide wegen Mordes verurteilt und gegen die wegen hoher Gefährlichkeit nachträglich eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war. Ihre Fälle wurden mit dem Urteil am Mittwoch an die zuständigen Landgerichte zurückgegeben und müssen nun erneut überprüft werden.
Keine Massenentlassungen aus den Gefängnissen
Doch welche Folgen ergeben sich daraus? Dass sich jetzt die Tore der Haftanstalten für alle Betroffenen öffnen, ist unwahrscheinlich. Die sofortige Freilassung für die derzeit etwa 100 Häftlinge, gegen die einst nach der früheren Regelung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, steht nicht an. „Eine solche Situation würde Gerichte, Verwaltung und Polizei vor kaum lösbare Probleme stellen“, sagte Voßkuhle.
Dennoch stellte er klar: Die weitere Unterbringung sei nur zulässig, wenn „die Gefahr künftiger schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten besteht“. Vorerst solle eine Übergangsregelung greifen. Hochgefährliche Straftäter dürfen unter engen Voraussetzungen in Sicherungsverwahrung bleiben, alle anderen müssen freigelassen werden. Zu prüfen sei in jedem Fall, ob bei einer Freilassung „künftige schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten“ des Betroffenen drohen würden. Nötig sei eine „strikte Prüfung der Verhältnismäßigkeit“.
Außerdem müsse der Gesetzgeber ein neues Gesamtkonzept für die gerade erst reformierte Sicherungsverwahrung schaffen, so Voßkuhle. Für ein neues Gesetz setzt das Gericht der Regierung eine Frist von zwei Jahren: Bis Mai 2013 soll die Sicherungsverwahrung grundlegend reformiert und ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ entwickelt werden (Az. 2 BvR 2365/09 u.a.).
Die Sicherungsverwahrung darf demnach künftig nur noch als „letztes Mittel“ angeordnet und vollzogen werden. Nötige Therapien müssten schon während des vorangehenden Strafvollzugs beginnen und so intensiv betrieben werden, dass sie möglichst schon vor Ende der Strafhaft abgeschlossen werden können.
Spätestens zu Beginn der Sicherungsverwahrung müsse der Betroffene umfassend untersucht und nach Erstellung eines Vollzugsplans „intensiv“ durch Fachkräfte therapeutisch betreut werden. Ihm müsse eine „realistische Entlassungsperspektive“ eröffnet werden. Die Mitwirkung des Betroffenen sei durch „gezielte Motivationsarbeit“ zu fördern.
Gesonderte Unterbringung gefordert
Das wichtigste dabei: Es muss ein deutlicher Abstand zum Strafvollzug eingehalten werden, so Voßkuhle. Das derzeitige System der Sicherungsverwahrung genüge nicht dem sogenannten „Abstandsgebot“. Es unterscheidet sich nicht deutlich genug vom regulären Strafvollzug.
Denn anders als eine Freiheitsstrafe dient die Verwahrung nicht der Sühne der Schuld. Vielmehr soll die Bevölkerung vor gefährlichen Tätern geschützt werden, die ihre Strafe bereits abgesessen haben, aber im juristischen Sinn kein Fall für die Psychiatrie sind. Voraussetzung für die Anordnung ist bislang, dass psychiatrische Gutachter den Täter weiter als gefährlich einstufen. Diese Grauzone hat der Gesetzgeber in der bisherigen Praxis schlicht nicht angemessen berücksichtigt – und hat dafür jetzt die Quittung erhalten.
Derzeit befinden sich inklusive der 100 Altfälle bundesweit insgesamt etwa 500 Straftäter in Sicherungsverwahrung, die ihre eigentliche Strafe schon verbüßt haben, aber weiterhin als gefährlich gelten und zum Schutz der Bevölkerung eingesperrt bleiben. Dem müsse der Gesetzgeber jetzt durch ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ Rechnung tragen. Erforderlich sei eine intensive therapeutische Betreuung, die „dem Untergebrachten eine realistische Perspektive auf Wiedererlangung der Freiheit eröffnet“.
In der Praxis müssen die Sicherungsverwahrten nun in besonderen Gebäuden und Abteilungen untergebracht werden, die den therapeutischen Erfordernissen entsprächen, und über genügend Personal verfügten. Ihr Leben müsse so weit wie möglich „den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst“ und ihnen familiäre und soziale Außenkontakte ermöglicht werden. Mindestens einmal im Jahr müsse gerichtlich überprüft werden, ob die Täter in Verwahrung bleiben müssen, so Voßkuhle.
Nur hochgefährliche und psychisch gestörte Straftäter bleiben in Haft
Große Hoffnung auf baldige Entlassung dürfen allerdings Häftlinge haben, deren Sicherungsverwahrung rückwirkend über die früher geltende Zehn-Jahres-Frist hinaus verlängert wurde: Für sie gelten besonders hohe Hürden für eine weitere Unterbringung. Betroffen sind etwa 80 Männer, darunter auch Mörder und Sexualstraftäter, von denen nach Schätzungen schon mehr als 30 entlassen wurden, nachdem der EGMR die Sicherungsverwahrung für menschenrechtswidrig erklärt hatte – so auch Jürgen B. aus Berlin.
Der 69-Jährige saß seit 1969 fast durchgehend im Gefängnis, weil er eine Bekannte erwürgte. Ursprünglich hatte er 15 Jahre lang dafür hinter Gittern büßen sollen. Nach zehn Jahren gewährte ihm die Anstalt drei Tage Hafturlaub – und Jürgen B. tötete erneut. Er erwürgte eine weitere Frau, tötete auch deren fünfjährigen Sohn Frank und verging sich an dessen Leiche. Das Landgericht verurteilte ihn zu zwölf Jahren Haft plus Sicherungsverwahrung, die 2007 rückwirkend verlängert wurde, weil B. als stark rückfallgefährdet galt. Im März 2011 musste Jürgen B. wegen des EGMR-Urteils seine Einzelzelle in Teilanstalt 5 der JVA Berlin-Tegel verlassen.
Laut Verfassungsgericht können nun – anders als nach der Straßburger Rechtsprechung – nur noch die Täter weiter in Haft bleiben, von denen eine „hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten“ ausgeht und die außerdem an einer „zuverlässig nachgewiesenen psychischen Störung“ leiden, erklärte Gerichtspräsident Voßkuhle. Er verwies darauf, dass auch nach Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine nachträglich verlängerte oder angeordnete Sicherungsverwahrung nur unter der Voraussetzung einer psychischen Störung zulässig sei.
Die Entscheidung vom Mittwoch ist der vorläufige Höhepunkt einer jahrelangen Debatte. Denn die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist seit ihrer gesetzlichen Einführung im Jahr 2004 juristisch umstritten. Sie wurde angewandt, wenn sich eine besondere Gefährlichkeit erst in der Haft herausstellte. Mit einer Neuregelung, die zum Jahresbeginn in Kraft trat, wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Neufälle im Grundsatz abgeschafft. Für Menschen, die da schon in Haft saßen, ist sie aber bislang noch möglich gewesen.
Das Bundesverfassungsgericht stellte nun klar: Die Gerichte müssen in diesen Fällen die Voraussetzungen für eine weitere Verwahrung „unverzüglich“ prüfen. Andernfalls müssten die Betroffenen bis Ende 2011 freigelassen werden, sagte Voßkuhle. Das gleiche gilt auch für die zweite Gruppe von Straftätern, bei denen die Verwahrung erst nachträglich angeordnet wurde. Dies betrifft mehr als 20 Fälle.
Immerhin hat der Gesetzgeber schon reagiert. Das seit Januar geltende Therapieunterbringungsgesetz greift diesen Gedanken den Richtern zufolge bereits auf. Auf dessen Grundlage könnten psychisch gestörte und weiterhin gefährliche Rückfalltäter in therapeutischen Einrichtungen verwahrt werden.
„Schutz der Bevölkerung hoch gestellt“
Opferverbände zeigten sich zufrieden mit dem Urteil der Karlsruher Richter: „Das Gericht hat den Schutz der Bevölkerung hoch gestellt, auch wenn es das nicht explizit in seiner Erklärung erwähnt hat“, sagte Veit Schiemann vom Opferhilfeverein „Weißer Ring“ SPIEGEL ONLINE. „Ich halte es für machbar, dass der Staat es schaffen wird, innerhalb von zwei Jahren ein neues Gesetz zu schaffen.“
Sicherungsverwahrung sei ein unverzichtbares Instrument des Strafrechts und müsse es auch bleiben. Es gebe viele Straftäter, die nicht therapierbar seien und eine dauerhafte Gefahr darstellten. Der Schutz der Bevölkerung habe im Zweifel immer Vorrang vor dem Freiheitsrecht gefährlicher Täter, so Schiemann.
Die beiden großen Polizeigewerkschaften DPolG und GdP bedauern dagegen das Urteil: Aufgrund der Entscheidung könne es zu weiteren Freilassungen kommen, die die Polizei vor enorme Probleme stellten, sagte Hermann Benker, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Die Polizei werde „einmal mehr mit der Erstellung von Gefahrenprognosen im Regen stehen gelassen“. In letzter Konsequenz seien die Freiheitsrechte der Betroffenen über die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung gestellt worden. Es gehe hier immerhin um „extrem gefährliche Straftäter“ und „nicht um Eierdiebe“.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte ebenfalls, in Kürze sei „eine große Anzahl freigelassener gefährlicher Gewalttäter“ zu erwarten, die dann von der Polizei überwacht werden müssten. GdP-Chef Bernhard Witthaut sagte, das Urteil sei nicht überraschend. Die Rechtspolitiker hätten „alle rechtswissenschaftlichen Hinweise“ auf die Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung „in den Wind geschlagen“.
Tagesschau, 04.05.2011
Reaktionen auf BVerfG-Urteil
Niederlage oder Rückhalt für Schwarz-Gelb?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung ist überwiegend begrüßt worden. Die Opposition wertete die Entscheidung der Richter allerdings als schweren Schlag für die Bundesregierung. Die schwarz-gelbe Koalition stehe „nun vor einem rechtspolitischen Scherbenhaufen“ sagte der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Jerzy Montag. Der Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, begrüßte das Urteil. Es stelle klar, „was wir Grüne schon immer fordern“. Halina Wawzyniak, stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke, nannte das Urteil „eine vernichtende Niederlage für die Regierungskoalition, die noch im vergangenen Jahr eine Neuregelung der Sicherungsverwahrung durchgepeitscht hatte“. Sie forderte, eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, um zu einer Neuausgestaltung zu gelangen.
SPD spricht von klugem Urteil
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, bezeichnete das Urteil als klug, „weil es die Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft durchaus angemessen berücksichtigt, gleichzeitig aber deutlich macht, dass es keine Straftat ist, gefährlich zu sein“. Auch sozialdemokratische Minister mehrere Landesregierungen begrüßten die Entscheidung der Karlsruher Richter. Thüringens Justizminister Holger Poppenhäger erklärte, die Entscheidung schaffe endlich Rechtsklarheit und hebe den Widerspruch zum europäischen Menschenrechtsschutz auf. Damit hätten die deutschen Gerichte mit Blick auf ihre unterschiedlichen Urteile zur Sicherheitsverwahrung aus Karlsruhe eine „Richtschnur erhalten“.
Der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty betonte ebenfalls, dass das Urteil Rechtsklarheit bringe. Nun sei der Bundesgesetzgeber gefordert, auf Grundlage der Vorgaben der Richter „die völlig unübersichtlich gewordene Gesetzeslage zur Sicherungsverwahrung in Gänze klar und eindeutig neu zu regeln“. Zugleich betonte Kutschaty, es sei wichtig, dass auch nach dieser Entscheidung die Möglichkeit bestehe, äußerst gefährliche Verbrecher in Sicherungsverwahrung zu behalten.
Schwarz-Gelb sieht sich in Neuausrichtung bestätigt
Union und FDP sehen sich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in ihrem eingeschlagenen Weg zu Neuregelung der Sicherungsverwahrung bestätigt. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erklärte, die „grundlegende Weichenstellung der zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Neukonzeption“ der Sicherungsverwahrung hätten die Richter nicht infrage gestellt. „Die Voraussetzungen, unter denen ein Straftäter in Sicherungsverwahrung genommen werden kann, sind nicht beanstandet worden“, betonte die FDP-Politikerin. Allerdings räumte sie ein, dass die Sicherungsverwahrung in der Praxis nicht die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs erfülle. Bund und Länder müssten dafür sorgen, dass sich die Sicherungsverwahrung deutlicher von der Strafhaft unterscheide und Therapieangebote beinhalte. Die Justizministerkonferenz von Bund und Ländern im Mai biete die erste Gelegenheit, sich mit den Auswirkungen dieser Entscheidung zu befassen. werden.
Unions-Fraktionsvize Günter Krings erklärte, möglicherweise gebe es auch Handlungsbedarf bei der nach wie vor bestehenden nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht. Im Kern habe das Karlsruher Gericht aber die Sicherungsverwahrung bestätigt. Dem Urteil zufolge verstoße die Möglichkeit, psychisch gestörte und gefährliche Straftäter nach Haftverbüßung zur Therapie geschlossen unterzubringen, nicht gegen die Verfassung. Krings begrüßte, dass das Gericht dem Gesetzgeber Übergangsregeln eingeräumt habe und damit gefährliche Straftäter nicht sofort freigelassen werden müssten.
Auch der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann zeigte sich mit dem Urteil zufrieden. Damit werde „endlich Klarheit geschaffen“, sagte der CDU-Politiker in Hannover. Er betonte, dass sein Land weiter an der Neuausrichtung der Sicherungsverwahrung arbeite. Unter Vorsitz Niedersachsens hatten die Länder einen Kriterienkatalog zur künftigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung ausgearbeitet. Dieser müsse nach dem Urteil nun eventuell ergänzt werden. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann begrüßte das hat das Urteil ebenfalls. Nun gelte es, das auf Therapie ausgerichtete Gesamtkonzept rasch umzusetzen, erklärte der CSU-Politiker. Hierzu erwarte er zügige Vorschläge der Bundesjustizministerin.
Kritik der Polizeigewerkschaften: Es geht nicht um „Eierdiebe“
Die beiden großen Polizeigewerkschaften bedauerten das Urteil der Verfassungsrichter. Aufgrund der Entscheidung könne es zu weiteren Freilassungen kommen, die die Polizei vor enorme Probleme stellten, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Hermann Benker. Mit dem Urteil seien die Freiheitsrechte der Betroffenen über die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung gestellt worden. Es gehe hier immerhin um „extrem gefährliche Straftäter“ und „nicht um Eierdiebe“.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) machte auf die zu erwartenden Probleme für die Polizei aufmerksam. GdP-Chef Bernhard Witthaut sagte, in Kürze sei „eine große Anzahl freigelassener gefährlicher Gewalttäter“ zu erwarten, die dann von der Polizei überwacht werden müssten. Witthaut kritisierte, die Rechtspolitiker hätten „alle rechtswissenschaftlichen Hinweise“ auf die Verfassungswidrigkeit der Sicherungsverwahrung „in den Wind geschlagen“.
Süddeutsche Zeitung, 04.05.2011
Bundesverfassungsgericht kippt Sicherungsverwahrung
Verwahren, nicht wegsperren
04.05.2011, 12:53
Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe
„Die Wiedererlangung der Freiheit muss die Praxis der Unterbringung bestimmen“: Das Bundesverfassungsgericht hat die Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt. Allerdings führt die Karlsruher Entscheidung nicht zu einem Entlassungs-Automatismus: Bis der Gesetzgeber neue Regelungen geschaffen hat, gelten die alten Vorschriften weiter – mit strengen Vorgaben.
Die Sicherungsverwahrung muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts komplett neu geregelt werden. Sowohl die früheren als auch die jüngst reformierten Vorschriften, nach denen gefährliche Straftäter über den eigentlichen Entlassungstermin hinaus eingesperrt werden können, verletzen das Grundrecht auf Freiheit, entschied der Zweite Senat.
Sicherungsverwahrung für Schwerkriminelle verfassungswidrig – Bundesverfassungsgericht:
Für eine Neuregelung hat der Gesetzgeber zwei Jahre Zeit, bis dahin gelten die alten Vorschriften weiter – allerdings mit strengen Vorgaben: „Hochgefährliche Straftäter dürfen unter engen Voraussetzungen weiter verwahrt werden, die anderen müssen freigelassen werden“, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Bei der Reform müssen Bund und Länder ein Gesamtkonzept für einen „freiheitsorientierten und therapiegerichteten Vollzug“ schaffen.
Damit reagierte das Gericht auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Der Straßburger Gerichtshof hatte den nachträglichen Wegfall der zehnjährigen Höchstdauer, die bis 1998 für die Sicherungsverwahrung galt, als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gerügt. Anders als das deutsche Recht stufte er die Sicherungsverwahrung als Strafe ein, weil sich ihr Vollzug in der Praxis kaum von der Strafhaft unterscheide. Betroffen von dem Straßburger Urteil sind etwa 120 Straftäter, deren Sicherungsverwahrung bereits vor 1998 verhängt worden war; mehr als 30 davon wurden bereits auf freien Fuß gesetzt.
Die Karlsruher Entscheidung führt nicht zu einem Entlassungs-Automatismus. Urteile des EGMR dienten zwar als „Auslegungshilfe“ für das Grundgesetz, seien aber nicht schematisch umzusetzen. Von der Straßburger Entscheidung betroffene Straftäter können allerdings nur dann weiter in Verwahrung bleiben, wenn aus konkreten Umständen eine „hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten“ abzuleiten ist und sie an einer „psychischen Störung“ leiden, wie dies im seit Anfang des Jahres geltenden Therapieunterbringungsgesetz vorgeschrieben ist. Diese deutlich strengeren Voraussetzungen dürfte nur ein Teil der Sicherungsverwahrten erfüllen, so dass mit weiteren Entlassungen zu rechnen ist. Die Gerichte müssen dies „unverzüglich“ prüfen, sonst müssen die Betroffenen bis zum Jahresende entlassen werden.
Präventive Zwecke
Eine Neuregelung der Sicherungsverwahrung ist nach dem Urteil nur zulässig, wenn der Freiheitsentzug sehr viel stärker als bisher auf Behandlung und Therapie ausgerichtet ist als der normale Strafvollzug. Dieses „Abstandsgebot“ hatte das Gericht bereits 2004 formuliert. Ziel müsse sein, die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu verringern und dadurch die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren.
„Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmen“, befanden die Richter. Dazu macht das Urteil detaillierte Vorgaben: Therapien müssten schon im Strafvollzug beginnen und möglichst vor Strafende abgeschlossen sein. Bei Beginn der Sicherungsverwahrung müsse ein Vollzugsplan mit einer „realistischen Entlassungsperspektive“ aufgestellt werden. Notwendig seien vom Strafvollzug getrennte Gebäude, Möglichkeiten für soziale Kontakte nach draußen sowie Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der Entlassung. Der Senat – federführend waren Andreas Voßkuhle und Herbert Landau – erinnerte eindringlich daran, dass die Sicherungsverwahrung allein präventiven Zwecken diene und nicht, wie die Strafhaft, der Vergeltung schuldhaft begangener Taten.
Max Stadler, FDP-Staatssekretär im Bundesjustizministerium, wertete die Entscheidung positiv. Die Freiheitsentziehung sei danach das „letzte Mittel“ – dies sei ein zentraler Leitgedanke auch der jüngsten Reform der Sicherungsverwahrung gewesen. Das Urteil habe gezeigt, dass das über Jahre hinweg vom Gesetzgeber produzierte „Flickwerk“ bei der Sicherungsverwahrung nicht haltbar sei. Auch Niedersachsens Justizminister Bernd Busemann (CDU) begrüßte das Urteil: „In einer schwierigen Frage wurde jetzt endlich Klarheit geschaffen“, sagte der Minister in Hannover.
Die beiden großen Polizeigewerkschaften DPolG und GdP bedauerten den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hingegen – und wiesen auf die Folgen des Urteils hin. Aufgrund der Entscheidung könne es zu weiteren Freilassungen kommen, die die Polizei vor enorme Probleme stellten, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Hermann Benker, in Berlin. In letzter Konsequenz seien die Freiheitsrechte der Betroffenen über die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung gestellt worden. Es gehe hier immerhin um „extrem gefährliche Straftäter“ und „nicht um Eierdiebe“.
Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) forderte den Bundesgesetzgeber auf, sich „schnellstmöglich“ mit den Ländern zusammenzusetzen, um die Konsequenzen des Urteils abstimmen zu können.
Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht die jüngste Reform der Sicherungsverwahrung indes durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigt. Die Karlsruher Richter hätten die zu Jahresbeginn in Kraft getretenen Regelungen nicht infrage gestellt, erklärte sie in Berlin. Jedoch seien Bund und Länder nun gefordert, dafür zu sorgen, dass sich Strafhaft und Sicherungsverwahrung stärker voneinander unterscheiden. Das Gericht habe vor allem angemahnt, dass die Sicherungsverwahrung mehr Therapieangebote für die Täter beinhalten müsse.