Süddeutsche. de, 01.07.2011
Innenminister Friedrich warnt vor Neonazis in Designer-Kleidung

Modewandel in der rechten Szene: Laut aktuellem Verfassungsschutzbericht gelten Glatze und Springerstiefel bei Neonazis mittlerweile als veraltet. Innenminister Friedrich warnt vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft – auch auf der Gegenseite: Die Zahl der Autonomen bei den Linksextremisten sei gestiegen.
Es ist vor allem der islamistische Terror, der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Sorge bereitet: Diese Bedrohung existiere in großer Vielfalt und konzentriere sich längst nicht mehr auf einen einzigen Anführer, erklärte der CSU-Politiker bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2010 in Berlin. „Es gibt daher keinen Grund zur Entwarnung.“
Die Zahl der Mitglieder und Anhänger der 29 in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen habe im vergangenen Jahr noch einmal deutlich zugenommen, berichtete der Minister. Sie sei 2010 um 1.100 auf 37.370 Mitglieder gestiegen. Gestützt auf das Internet, missbrauchten vor allem Salafisten die Begeisterungsfähigkeit von Jugendlichen für ihr Ziel, die Bundesrepublik im Sinne der Scharia, des religiösen Gesetzes des Islam, umzugestalten.
Im Bereich des Rechtsextremismus konnte Friedrich zufolge ein erneuter leichter Rückgang der Aktivisten auf 25.000 Personen festgestellt werden. Rückläufig sei auch die Zahl der NPD-Mitglieder. „Der Misserfolg der NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt beweist einmal mehr die Kraft der Demokraten in unserem Land““ sagte der Innenminister.
Sorge macht hier eine andere Entwicklung: Rechtsextremisten legen immer mehr ihre Uniformierung ab. Neonazis legten neuerdings Wert auf schicke Designer-Kleidung. Glatze und Springerstiefel gelten demnach in rechtsextremen Kreisen mittlerweile als veraltet.
Dem Bericht zufolge bevorzugen Neonazis in der Öffentlichkeit jetzt Kleidung und Marken, die sich an allgemeinen Trends der Jugendmode orientieren und durch entsprechende Schriftzüge oder Symbole die Zugehörigkeit zur Szene weniger offensichtlich signalisieren. Viele Rechtsextreme würden auf ein einschlägiges Erscheinungsbild verzichten, um gesellschaftlich nicht stigmatisiert zu werden.
Die Deutsche Polizeigewerkschaft registrierte den Anstieg rechtsextremistischer Straftaten in den ostdeutschen Ländern mit großer Sorge. Ihr Bundesvorsitzender Rainer Wendt forderte: „Vor allem im Osten Deutschlands, wo 40 Prozent der rechtsextremen Gewalttaten registriert wurden bei einem bundesweiten Bevölkerungsanteil von nur 15 Prozent, müssen endlich Strategien von der Politik entwickelt werden, die dem rechtsextremen Treiben Einhalt gebieten.“
Im linksextremistischen Spektrum stellte der Verfassungsschutz eine erhöhte Zahl gewaltbereiter Linksextremisten fest, besonders der Autonomen. Sie stieg von 6600 im Jahr 2009 auf 6.800 im Jahr 2010. „Wir haben zwar mehr gewaltbereite Personen in der rechten Szene“, sagte der CSU-Politiker. „Betrachtet man aber die Straftaten, bei denen tatsächlich Gewalt angewandt wird, stellt man fest: Sie werden mehrheitlich von Linksextremisten verübt.“
Nach einem Rückgang der linksextremistischen Gewalttaten im Vorjahr nehmen diese Delikte in den ersten fünf Monaten 2011 wieder zu. Einschließlich Mai 2011 seien sogar mehr linksextreme Gewalttaten verzeichnet worden als im bisherigen Rekordjahr 2009. „Es gibt leider keine Wende, sondern nur eine Delle“, sagte Friedrich.
Die Partei „Die Linke“ werde zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet, sagte der Bundesinnenminister. In ihr sammelten sich Kräfte, die eine Veränderung der bisherigen Staats- und Gesellschaftsform wollten.
Friedrich wies auch auf die besondere Bedrohung durch internetbasierte Angriffe auf Computersysteme von Wirtschaftsunternehmen und Regierungsstellen hin. Diese Angriffe seien zahlreicher und komplexer geworden. Gerade kleine und mittlere Unternehmen verfügten hier noch nicht über die nötige Sensibilität und das Know-how, um sich vor den Angriffen zu schützen.

Handelsblatt, 01.07.2011

VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT
Deutschland zunehmend im Visier von Linksterroristen
In Deutschland haben linksextremistische Straftaten drastisch zugenommen. Niedersachsens Innenminister hält die Zahlen für höchst beunruhigend. Die Polizei auch. Sie gibt dafür der Politik eine Mitschuld.
Osnabrück/BerlinNach einem Rückgang 2010 nimmt linksextremistische Gewalt in diesem Jahr nach einem Medienbericht wieder massiv zu. Wie die „Neue Osnabrücker Zeitung“ (Freitag) unter Berufung auf das niedersächsische Innenministerium berichtet, wurden im ersten Quartal 2011 bundesweit 39 Prozent mehr linksextremistische Straftaten verzeichnet als im Vorjahreszeitraum. Bei den linksextremistischen Gewaltdelikten betrug der Anstieg demnach sogar 68 Prozent.
„Ich kann nur dringend davor warnen, in den rückläufigen Zahlen des Verfassungsschutzberichts 2010 einen Anlass zur Entwarnung zu sehen“, sagte Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Die aktuellsten Zahlen zum Linksextremismus seien höchst beunruhigend. „Noch nie seit Einführung der bundesweiten Statistik zu politisch motivierter Kriminalität im Jahr 2001 sind die Zahlen beim Linksextremismus in einem ersten Quartal höher gewesen als heute“, so Schünemann.
Die Polizeigewerkschaft wies der Politik eine Mitschuld an der Entwicklung zu. Der Anstieg habe auch damit zu tun, dass unter dem Deckmantel „Kampf gegen Rechts“ linke Straftaten „konsequent verharmlost und ignoriert“ würden. „Regelmäßig stehen Tausende Polizistinnen und Polizisten im Stein- und Flaschenhagel derjenigen, die durch rechtswidrige Blockaden und tätliche Angriffe auf die Einsatzkräfte den Versuch unternehmen, rechtsstaatlich zulässige Versammlungen gewaltsam zu verhindern“, sagte Verbandschef Rainer Wendt Handelsblatt Online. „Teilweise werden sie durch teilnehmende Politiker geradezu ermuntert, gegen Gesetze zu verstoßen, der Schritt zur Gewalt gegen die Polizei ist dann nicht mehr weit.“ In Berlin und anderen Städten habe es nachweislich Tötungsversuche an Einsatzkräften der Polizei gegeben und es gebe aktuell Hinweise darauf, dass jetzt sogar Privatautos von Polizisten mit dem Ziel manipuliert werden, Verkehrsunfälle zu produzieren.
Diese Entwicklung wird nach Ansicht Wendts verschärft durch „scheinbar legitimes Eintreten gegen sozioökonomische Veränderungen“ in Großstädten, etwa gegen die Modernisierung von Wohnvierteln, die dann zu Erhöhungen von Immobilienpreisen führt und angestammte Mieter vertreibt. „Projekte wie Stuttgart 21 sind durch die Politik immer weniger vermittelbar, eskalieren zusehends und werden zur Begründung für Angriffe auf Polizisten und Verkehrsinfrastrukturen genutzt“, ist Wendt überzeugt.
Landesinnenminister sieht neue Dimension
Der Polizeigewerkschafter forderte vor diesem Hintergrund die Landesregierungen auf, ihre Polizei endlich in die Lage zu versetzen, mit moderner Technik und ausreichendem Personal gegen die Täter vorzugehen. Zudem müsse die Justiz die vorhandenen Strafrahmen bei nachgewiesenen Straftaten auch nutzen, „statt immer und immer wieder mit Bewährungsentscheidungen oder lächerlichen Anti-Gewalt-Trainings faktische Freisprüche zu produzieren“, sagte Wendt und fügte hinzu: „Außerdem erwarten wir von allen demokratischen Politikern, dass sie sich auch dann konsequent zum Rechtsstaat und seinen Regeln bekennen, wenn es darum geht, gegen rechte Extremisten, die von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch machen, zu demonstrieren.“
Nach Einschätzung Schünemanns stehen linke Gewalttäter inzwischen „an der Schwelle zu einem neuen Linksterrorismus“. Autonome Linksextremisten nähmen mittlerweile in Kauf, dass bei ihren Anschlägen Menschen ums Leben kämen. „Sie zünden Autos an oder greifen Polizisten gezielt an.“ Die Geschichte der RAF zeige, dass „der Weg vom Brandanschlag zu gezielten Mordanschlägen nicht weit ist“. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) stellt an diesem Freitag den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2010 vor.
Dabei geht es vor allem um die Entwicklung des Links- und des Rechtsextremismus in Deutschland sowie die Bedrohung durch islamistische Terroristen. Bereits vorab wurde bekannt, dass die Gesamtzahl politisch motivierter Straftaten sowohl aus dem rechten wie auch aus dem linken Spektrum im Vergleich zum Jahr 2009 gesunken ist. Dies trifft auch auf die Untergruppe der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten zu. Hier gibt es allerdings in den ostdeutschen Bundesländern nach einem Bericht der „Welt“ einen leichten Anstieg.
Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sagte der „Mitteldeutschen Zeitung“: „Dass rechtsextremistische Straftaten in Ostdeutschland überproportional häufiger zu verzeichnen sind, ist eine traurige Tatsache.“ Der Osten sei seit 1990 bevorzugtes Feld rechtsextremistisch-ideologischer Indoktrinierungsversuche. „Die soziale Verunsicherung eines Teiles der Bevölkerung macht sie offenbar empfänglicher für die Botschaften der Vereinfachung.“ Der SPD-Politiker mahnte: „Verstärkte Anstrengungen der politischen Bildung und die nachhaltige Förderung demokratischer Kultur sind daher in Ostdeutschland besonders notwendig.“

Im Archiv stöbern