Nürnberger Zeitung, 30.09.2010
Wie können sich Polizisten schützen – ohne zu schießen
Seminar zeigte: Gegen Messer hat man als unbewaffneter kaum Chancen
Nürnberg – Immer wieder werden Polizisten mit Messern angegriffen. Auch der Regensburger Student Tennessee Eisenberg, der durch 16 Schüsse aus Polizeipistolen starb, hatte ein Messer in der Hand. Nicht zuletzt diese Todesschüsse von Ende April 2009 werfen die Frage auf: Können sich Polizisten gegen Messerattacken schützen ohne zu schießen?
„Es gibt keinen klassischen Messerangriff“: Die Trainer Florian Lahner (links) und Karl Heinz Schurrer demonstrierten, dass Messerstecher schwer abzuwehren sind.
Foto: Harald Sippel
Deutliche Antworten gab ein Seminar der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). chon der erste Selbstversuch lässt keine Zweifel. Mein Gegenüber, bullig, durchtrainiert, umklammert meinen rechten Unterarm mit eisernen Pranken. Trotzdem gelingt es, mein Handgelenk zu drehen, das Messer auf seinem Unterarm aufzusetzen: etwas Druck, eine Drehung mit der stumpfen Schneide des Trainingsmessers — der Mann lässt unvermittelt los: Eine echte Klinge hätte Muskeln und Sehnen seines Unterarms schmerzhaft durchtrennt. Ich hätte jetzt freie Bahn, um zuzustechen…
Genau dies wollen die freiberuflichen Trainer Florian Lahner und Karl Heinz Schurrer deutlich machen. Ein Angreifer mag körperlich noch so untrainiert sein: Mit einem Messer kann er selbst haushoch überlegene Gegner ausschalten. Schon ein Treffer einer Hauptschlagader oder von lebenswichtigen Organen kann tödlich sein; und Messerstecher stechen im Nahkampf nicht selten unkontrolliert immer wieder zu.
Welche Folgen schon leichte Attacken haben, demonstriert Lahner an einem Schweinenacken. Von Frischhaltefolie und einem Stück Jeans ummantelt, geht er für einen menschlichen Oberschenkel-Muskel durch. Ein schneller Wischer mit dem Messer: Im Fleisch klafft eine drei Zentimeter tiefe Wunde; weitere kleine Hiebe machen die Wunde zu einem hässlich klaffenden Loch.
Schon wenn 30 Prozent eines Muskels verletzt sind, versagt er seinen Dienst, sagt Lahner, der beruflich einige Zeit im Medizinsektor gearbeitet hat. Das bedeutet: Durch Schnitte in die Unterarm-Innenseite fällt die Hand aus, bei Oberschenkel-Treffern knickt das Bein weg — das Opfer kann sich gegen weitere Attacken noch weniger wehren. Eine tödliche Situation.
Für Polizeibeamte, die sich unvermittelt einem Messer gegenüber sehen, bedeutet das: Sie müssen den ersten Angriff kompromisslos stoppen. Und dabei binnen weniger Momente entscheiden, welchen Weg sie wählen. Dabei gibt es kaum Alternativen, macht Lahner deutlich.
Mit bloßen Händen kann niemand ein Messer abwehren. Das verdeutlicht eine weitere Demonstration mit Hühnerschenkeln. Deren Knochen sind deutlich dicker als menschliche Finger — und fliegen unter der sausenden Klinge nur so daher.
Auch Pfefferspray wird einen entschlossenen Angreifer nicht stoppen, sagt Trainer Lahner. Weil es zeitverzögert wirkt und weil der Messerstecher auch tränenblind noch sein Ziel trifft. Der Einsatzstock könnte eine Lösung sein, weil sich Angreifer damit auf Distanz halten lassen. Allerdings: In der Einsatzrealität befinden sich Streifenpolizisten oft in Gassen, Wohnungen oder anderen beengten Situationen, die Ausweichbewegungen sehr erschweren.
Was bleibt, ist die Schusswaffe — mit erheblichen Einschränkungen. Weil die mannstoppende Wirkung der Munition „sehr begrenzt“ ist, wie Rainer Nachtigall, der stellvertretende DPolG-Landeschef, sagt. Ein Täter unter Drogen bzw. mit einem hohen Adrenalin-Pegel kann selbst mit mehreren Treffern im Brustbereich noch bis zu eine Minute kampffähig sein, bevor er zusammenbricht, ergänzt Florian Lahner.
Zum anderen braucht man im Mittel 1,5 Sekunden, um die Waffe zu ziehen und erste, ungezielte Schüsse abzugeben. Ein Angreifer, auch das demonstrieren die Trainer Lahner und Schurrer, kann in dieser Zeit rund sieben Meter Distanz überwinden und ein, zwei Mal zustechen, bevor die Pistolenkugeln wirken.
Notwendig wären für die Polizeibeamten daher kugelsichere Westen, die auch Schnitte und Stiche abhalten, sowie messersichere Diensthandschuhe, sagt Lahner. Zwar gibt es noch keine Zahlen zu Messerangriffen auf Polizisten. Dazu soll die laufende Studie „Gewalt gegen Polizeibeamte“ mehr Klarheit bringen. Doch schon heute ist für die DPolG klar, dass der Freistaat mehr Trainingsstunden ermöglichen müsste, so Rainer Nachtigall. Denn Messerangriffe seien bislang „in der Fortbildung kein Thema“.